70. Jahrestag des Volksaufstandes von 1953: Das Holzkreuz und der „Russenstein“
Nur eine Woche nach der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 durch den Einsatz sowjetischer Panzer trugen einstige Aufstandsteilnehmer, die in den Westen geflüchtet waren, und Berliner Jugendliche ein großes Holzkreuz durch die West-Berliner Bezirke. Vom Potsdamer Platz kommend marschierte der Zug durch Friedenau über Steglitz nach Zehlendorf.
Dort stand seit Ende des Krieges auf dem Mittelstreifen der dortigen Autobahnüberführung (Autobahn-Kleeblatt) ein aufgesockelter sowjetischer Panzer. Er sollte damaligen Angaben entsprechend der erste Panzer der Roten Armee sein, der 1945 Berlin erreichte.
Das eindrucksvolle Holzkreuz wurde nach Zehlendorf getragen, wo es gegenüber der sowjetischen Panzerkanone aufgestellt wurde. Die „Vereinigung 17. Juni“ übernahm die Patenschaft für diesen neuen Gedenkort, der so zu einem originären Denkmal wurde, das in Deutschland an den 17. Juni 1953 mahnt und erinnert.
Die US-Amerikaner zäunten zwischenzeitlich den russischen Panzer wegen zahlreichen Anschlägen auf ihn während der Blockade West-Berlins ein. Schließlich wurde 1955 der Panzer auf Betreiben der US-Administration samt Sockel entfernt.
Zum „Ausgleich“ stellten die Sowjets kurze Zeit später einen baugleichen Panzer auf eine eigens errichtete Anhöhe nahe dem berühmten Grenzkontrollpunkt „Dreilinden“. Dort war dieser für Berlin-Ankömmlinge bis nach dem Mauerfall rechts der Autobahn als Monument sowjetischer Herrschaft nicht zu übersehen. Aber auch dieser Panzer musste schließlich der Volkswut 1989 weichen.
Der „Russenstein“
Nur ein Jahr später wurde unter Anteilnahme des eigens aus New York eingeflogenen letzten vorrevolutionären Ministerpräsidenten Russlands, Alexander Fyodorovich Kerensky, der seither sogenannte „Russenstein“ eingeweiht. Gegenüber dem Holzkreuz errichtet, besagte die Inschrift:
„Den Russischen Offizieren und Soldaten, die sterben mussten, weil sie sich weigerten, auf die Freiheitskämpfer des 17. Juni zu schiessen.“ Nach der Legende, die diesem Stein zugrunde gelegt wurde, waren in Berlin und in dem Wald von Biederitz bei Magdeburg Offiziere und Soldaten Ende Juni 1953 standrechtlich erschossen worden, weil sie sich geweigert hatten, auf die deutschen Freiheitskämpfer zu schießen.
Diese „Überlieferungen“ entstammten einer bisher einzigen Quelle. In einem Flugblatt informierte die russische Widerstandsorganisation namens NTS („Nationaler Bund des Schaffens“) deutsche „Freunde und Brüder“ darüber, dass am 28. Juni 1953 „im Sommerlager des 73. Schützenregiments 18 Soldaten von einem Sonderkommando standrechtlich erschossen“ worden waren. Auch Namen wurden angeführt: So seien unter den 18 Toten „der Gefreite Alexander Tscherbin, der Sergeant Nikolai Tjuljakow und der Soldat Djatkowski.“ Weitere Namen wären nicht bekannt, hieß es damals.
Während es vor der Wiedervereinigung keinerlei Diskussionen um den „Russenstein“ gab, tauchte nach dem Fall der Mauer und dem anschließenden „Eintritt der DDR in das Beitrittsgebiet der BRD“ plötzlich harsche Kritik auf. Als eine der ersten Medien plädierte der „Tagesspiegel“ für die Beseitigung des Steins, da dieser „nach historischen Erkenntnissen keine behauptete Grundlage“ habe.
Ähnlich äußerte sich der damalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen: Die Russische Regierung habe mitgeteilt, es seien für die Erschießungen „in russischen Archiven keine urkundlichen Hinweise, geschweige denn Beweise, gefunden worden.“
Von der Geschichte erwähnt – aber keiner hat etwas gesehen
Diese Angaben bleiben nach Meinung der „Vereinigung 17. Juni“ umstritten. Nicht nur die gebürtige Ukrainerin Alexandra Hildebrandt vom Haus am Checkpoint Charlie bezeichnet diese Angaben als fragwürdig: „In Moskau hat keiner Interesse an der Aufarbeitung dieser Geschichte“. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der jahrelang in russischen und deutschen Archiven geforscht hat, konstatiert durchaus widersprüchlich: Bei den Recherchen seien nur Briefe von sowjetischen Soldaten aufgetaucht, in denen die Geschichte erwähnt wurde. „Aber kein Einziger schreibt, dass er etwas gesehen hat.“
In dem Buch „Wir wollen freie Menschen sein“ der Gewerkschaft IG Bau, Steine, Erden von 1993 zum 40. Jahrestag, das ebenfalls als Standardwerk eingestuft wird, wird die behauptete Erschießung auf Seite 364 unter der zeitlichen Angabe „28.06.1953, 06:00 Uhr“ und dem Titel „18 Rotarmisten hingerichtet“ beschrieben:
„Auf einer Waldlichtung in der Nähe von Biederitz sind die Mannschaften des 75. sowjetischen Schützenregimentes angetreten. Die unbewaffneten Soldaten sollen Zeuge einer demonstrativen Hinrichtung ihrer Kameraden sein. Die ersten drei verurteilten Soldaten werden an die Grube geführt und von einem Exekutionskommando erschossen. Das grausame Schauspiel wiederholt sich sechsmal, um eine tiefere erzieherische Wirkung bei der Truppe zu erzielen. Die Rotarmisten hatten sich am 17. Juni 1953 in Magdeburg geweigert, das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen.“
Die Ex-Ukrainer kondolieren
Es gibt noch weitere Quellen, die diese Berichte untermauern. Offen bleibt der „letzte Beweis“, also die klare Auskunft aus Moskau, die unter den gegenwärtigen Umständen noch weniger zu erwarten ist als unter der Perestroika-Zeit Gorbatschows und Jelzins. Zumal seit vielen Jahren auch die Legende im Raum steht, unter den Erschossenen der Roten Armee hätten sich überwiegend Ukrainer befunden.
So veröffentlichte zum Beispiel die Deutsch-Ukrainische Herdergesellschaft e.V. in München am 28. Juni 1955 „In Memoriam“ zu dem DDR-weiten Volksaufstand: „Am 28. Juni 1953 wurden vom MWD 18 Rotarmisten und Offiziere erschossen, weil sie sich geweigert haben, während des Juniaufstandes auf deutsche Arbeiter in Magdeburg das Feuer zu eröffnen. Die Mehrzahl der Erschossenen waren Ukrainer. Die Deutsch-Ukrainische Herdergesellschaft gedenkt am 2. Jahrestag in tiefer Ehrfurcht dieser Helden, die ihr Leben der Menschlichkeit geopfert haben. Ihr Tod sei uns Verpflichtung, immer und zu jeder Zeit für die Freiheit, die Völkerverständigung und für die Menschenrechte einzustehen.“
Die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) und die „Vereinigung 17. Juni“ haben sich in dieser Angelegenheit ebenfalls über das Auswärtige Amt an die Russische Militäradministration in Moskau gewandt und um unterstützende Aufklärung gebeten. Die Antwort(en) schließen weder die eine noch die andere Sicht auf die damaligen Vorgänge aus. So schreibt das Auswärtige Amt am 03.06.1993 unter anderem: „Ich rechne nicht mehr damit, dass das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums unserer Botschaft in Moskau die Liste der erschossenen Offiziere und Soldaten übergeben wird. Offensichtlich bestehen dort psychologische Barrieren, die zu überspringen die Verantwortlichen noch nicht bereit zu sein scheinen.“
Massengrab bei Magdeburg entdeckt
Um 1993 wurde im Wald von Biederitz ein Massengrab entdeckt. In einem Hügel fanden sich Überreste mehrerer Menschen. Die gefundenen Leichenreste wurden vom Institut für Rechtsmedizin in der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg untersucht. Prof. Reinhard Szibor (*1945, Sachsen-Anhalt) übermittelte am 13.04.1999 folgendes Ergebnis:
Die (aufgefundenen) Schädel enthalten Pollen von Pflanzen, die im Sommer blühen. Somit ist wahrscheinlich, dass die Pollen kurz vor dem Tod eingeatmet wurden, der Todeszeitpunkt also im Sommer war. Befunde in den Zähnen hatten zuvor den Verdacht nahe gelegt, dass die Opfer aus einem Land mit einem niedrigen Niveau der Gesundheitsversorgung (Zahnbehandlung) wie zum Beispiel der Sowjetunion stammen.
Die bevorzugten Alternativhypothesen zur Erschießung russischer Soldaten waren Nazi-Morde am ehesten zum Kriegsende ausgeführt (vor dem 8. Mai 1945) oder KGB-Morde im Anschluss an den 17. Juni (1953).
„Für uns hat der Russenstein seine historische Bedeutung“
Solange diese Legende weder bestätigt noch einwandfrei dementiert worden ist, hat dieser „Russenstein“ seine historische Bedeutung. Außerdem hat dieser Stein in wichtigen Jahren dazu beigetragen, junge Menschen vor Anwandlungen von Hass gegen die Russen zu bewahren. Wir nahmen über ihn in unseren Herzen auf, dass es auch in Russland Menschen gibt, die sich der Verantwortung gegenüber den Gesetzen der Menschlichkeit verpflichtet fühlen.
Dass der „Russenstein“ auch in der heutigen Zeit für manche noch ein „Stein des Anstoßes“ ist, zeigte sich in der Bezirksverordnetenversammlung in Steglitz-Zehlendorf 2016. Damals stellte die darin vertretene AfD einen Antrag auf Entfernung des Steines. Nach Anhörung der „Vereinigung 17. Juni“ zu dem Gedenkort verwarf die Bezirksverordnetenversammlung in Steglitz-Zehlendorf den Antrag. Diese einzige originäre Gedenkstätte löst also auch siebzig Jahre nach ihrer spontanen Installierung – wie der einstige Aufstand selbst – ernst zu nehmende Diskussionen aus. Das bestätigt, dass das mehrfach erneuerte „Holzkreuz“ in Zehlendorf auch heute eine wichtige Bedeutung hat.
Künftige Generationen sollen sich hier an einem würdigen und seiner Bedeutung entsprechenden Gedenkort an das große historische Ereignis in der Nachkriegszeit erinnern können, das für Europas Zukunft durch die nachfolgenden Beben in Posen, Ungarn, der CSSR und Polen sowie dem Fall des Eisernen Vorhangs so bedeutend wurde: Der Aufstand vom 17. Juni 1953.
Zur Person:
Carl-Wolfgang Holzapfel (Jahrgang 1944) wuchs in Berlin-Zehlendorf auf. Er wurde durch den Aufstand in Ungarn politisiert. Nach dem Mauerbau schloss er sich dem Gedanken des gewaltlosen Widerstandes nach Mahatma Gandhi an. Er führte mehrere Hungerstreiks an Mahnmalen von Maueropfern durch. Er wurde 1965 am Checkpoint Charlie nach einer Demonstration verhaftet und 1966 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seinem Freikauf Ende 1966 durch die BRD führte er seinen Widerstand gegen die Mauer bis zu ihrem Ende fort.
Bekanntheit erlangte er mit einem Protest vom 13. August 1989, als er sich am Checkpoint Charlie über den „weißen Strich“ legte: die Füße im Westen, Kopf und Herz im Osten. 1990 ging er vor dem (letzten) Justizministerium der DDR in den Hungerstreik, um den Rücktritt des Justizministers zu erreichen, der zuvor in diesem Amt bereits unter Ulbricht und Honecker gedient hatte. Schließlich trat dieser zurück. Nach jahrelangen Kämpfen erreichte er die Errichtung eines „Platz des Volksaufstandes von 1953“ in Berlin. Er ist Vorsitzender der „Vereinigung 17. Juni“, die von ehemaligen Aufständischen und Mitgliedern des „Komitee 17. Juni“ 1957 gegründet wurde. Er war 1965 erstmalig dort Mitglied.
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