Warum Mileis „Kettensägenpolitik“ nicht ausreichend ist

Am 22. Juni kommt der argentinische Präsident Milei nach Hamburg. Dort wird er am Nachmittag von der libertären Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft mit einer Medaille geehrt. Unser Gastautor Benjamin Mudlack, selbst Mitglied der Hayek-Gesellschaft, nimmt dies zum Anlass, über das von Milei geprägte Bild der Kettensägenpolitik zu reflektieren.
Titelbild
Argentiniens Präsident Javier Milei beim Ukraine-Gipfel in der Schweiz am 15. Juni 2024. Foto. DENIS BALIBOUSE/POOL/AFP via Getty Images
Von 20. Juni 2024

Der im November 2023 gewählte argentinische Staatspräsident und Ökonom Javier Milei bezeichnet sich selbst als Anarchokapitalisten und als Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Sein Sinnbild war die Kettensäge. Er hat sich zum Ziel gesetzt, den Staat, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend sozialistischer regiert wurde, buchstäblich mit der Kettensäge zurechtzustutzen: Die Staatsquote reduzieren, Steuern senken, Staatsausgaben radikal zurückfahren, Bürokratie eindämmen, Ministerien abbauen, Zentralbank schließen, ein freies Marktgeld ermöglichen und so weiter.

Der Erfolg einer derartigen Reform hängt ab vom Erkenntnisstand der Menschen des jeweiligen Landes. Wenn Milei die Rückendeckung der Bürger nicht genießt, dann werden diese Reformen nicht akzeptiert und er wird sie nicht umsetzen können. Ebenso verhält es sich, wenn Milei wieder abgewählt werden sollte und nach ihm erneut ein Vertreter eines starken Staates, ein Etatist und Kollektivist das Amt übernehmen würde. Dieser Nachfolger würde das Land wieder auf den kollektivistischen Pfad setzten und sämtlich Reformen Mileis rückabwickeln.

Was aus den obigen Zeilen folgt, ist die Tatsache, dass eine Kettensäge nicht reicht, um wirklich langfristig erfolgreich die freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ideen umsetzen zu können. Eine Kettensäge stutzt den Baum lediglich. Wenn der Baum aber von Unkraut und schädlichen Schlingpflanzen befallen ist, dann werden die Unkräuter immer wieder nachwachsen.

Überdies befindet sich der größere Teil eines Baumes unter der Erde. Die Rede ist von den Wurzeln und den Verbindungen des Baumes zu anderen Bäumen und Organismen. Die Gesundheit des Baumes ist zudem abhängig von der Beschaffenheit des Bodens, aus dem er wächst. Ist der Boden „verseucht“ oder verunreinigt, hat der Baum keine Chance, gesund zu bleiben. An dieser Stelle ist die Kettensäge absolut machtlos.

Die Kettensäge ist daher nicht ausreichend als Werkzeug zur Lösung der vorliegenden Problemstellung. Tragfähige Lösungen zu finden, heißt, dass man den Problemen buchstäblich in der Tiefe auf den Grund geht. In diesem Fall geht man der Ursache an die Wurzel. Es ist erforderlich, den Boden zu kultivieren. Nur dann ist der Boden bereitet, damit neue Bäume gesund und frei wachsen können.

Den Problemen auf den Grund gehen

Bei der Frage des Geldwesens oder der nach der optimalen Organisation des menschlichen Zusammenlebens ist der Boden gleichzusetzen mit den Ideen der Menschen, mit ihren grundlegenden Haltungen zu sich und der Welt. Folgen sie den Ideen der freiwilligen Kooperation oder befürworten sie die unter Gewaltandrohung erzwungene Kooperation? Wie halten sie es mit der Aggression, ist die Gretchenfrage, welche Einstellungen und Überzeugungen haben sie zu sich und ihren Mitmenschen?

Um die Leitbilder der freiwilligen Kooperation und der Konsumentensouveränität etablieren zu können, ist es unumgänglich, dass die Menschen durch selbstständiges Denken geleitet werden und sich nicht von Machthabern und deren Propagandisten in geistige Glaubensgefängnisse sperren lassen. Mit Konsumentensouveränität ist die freie Wahlmöglichkeit in sämtlichen Märkten gemeint. Ohne Ausnahme! Besonders wichtig ist die freie Wahlmöglichkeit bei allen Gütern und Dienstleistungen – ob Nahrungsmittel, Häuser, Flugreisen, Geld, Recht, Bildung, Verteidigung et cetera.

Folgen sie den Ideen der freiwilligen Kooperation oder befürworten sie die unter Gewaltandrohung erzwungene Kooperation?

Wenn der Staat zum Gewaltmonopolisten wird

Der wichtigste Punkt ist die Ablehnung eines Gewaltmonopolisten, der das Nichtaggressionsprinzip verletzt, also unter Gewaltandrohung friedvolle Menschen zwingt, dies oder das zu tun oder zu unterlassen. Ein solcher Gewaltmonopolist kann der Staat sein (wie wir ihn heute kennen), und nach meiner Beurteilung ist er ein bedauerliches Relikt der voraufklärerischen Zeit. Besonders problematisch: Der Staat verfügt zudem über das Rechtsprechungsmonopol.

Wenn Sie in Streitfällen den Gewaltmonopolisten verklagen, dann stellt er den Richter. Sie haben also schlechte Chancen auf eine faire Rechtsprechung in allen Konflikten mit dem Gewaltmonopolisten, denn ein Richter urteilt tendenziell eher ungern gegen seinen Arbeitgeber, vor allem, wenn es um grundsätzliche Fragen geht. Wer sägt schon an dem Ast, auf dem er selber sitzt? Darüber hinaus kann der Gewaltmonopolist jederzeit die Grundlage für die Rechtsprechung ohne Ihre Zustimmung ändern. Dass der Staat dadurch immer mächtiger und größer wird, liegt auf der Hand.

Gefahren eines zu stark aufgeblähten Staatssystem

Das staatliche Bildungswesen, bestehend aus schulischer, beruflicher und akademischer Bildung, erzieht die Menschen systematisch zu Etatisten. Das heutige zwangsmonopolisierte Bildungssystem ist elementarer Bestandteil der Gesamtproblematik. Die Ideen der heute lebenden Elterngenerationen wurden in diesem System geprägt, und so verfestigt sich das Weltbild der Menschen von Generation zu Generation. Die staatlichen oder staatlich beeinflussten Medien verfestigen diese Glaubenssätze. Die Menschen sind durch diese Prägung bereit und willens, vom Staat Erzwungenes zu befürworten, ja herbeizusehnen, als gut und richtig anzusehen.

Diese seit langem andauernde geistige Prägung und das damit einhergehende Weltbild der Menschen ruckartig um 180 Grad zu drehen, hat eine geringe Erfolgswahrscheinlichkeit. Es gibt vermutlich viele Menschen, die psychologisch gesehen regelrecht abhängig geworden sind von der Verantwortungsübernahme für ihre Lebensführung durch den Staat. Plötzlich selbst in der Verantwortung zu stehen, würde sie überfordern. Freiheit ist jedoch nur durch die Übernahme von Verantwortung in sämtlichen Lebensbereichen zu erlangen.

Die Auslagerung der Verantwortung an den Staat hat die Menschen in eine extreme Form der Abhängigkeit gebracht. Wenn nun Befürworter der freiwilligen gesellschaftlichen Kooperation an dem Weltbild der Notwendigkeit eines „Allmächtigen Staates“ rütteln, der sich um nahezu alles kümmern muss, dann ist dies für viele eine Herausforderung, aus der Komfortzone zu kommen. Oder es fühlt sich für viele vielleicht schlicht unmöglich an. Man merkt dies sofort: Viele sind meist nicht offen für Argumentationen, die an ihrem anerzogenen und immer wieder antrainierten Weltbild rütteln.

Auch 70-jährige Menschen pflanzen noch Bäume

Und so ist es nicht verwunderlich, dass Zwang und Gewalt, die der Staat ausübt, die ihn ausmachen, nur von recht wenigen Menschen noch infrage gestellt wird. Die hieraus resultierenden Konsequenzen sind vielen Menschen vermutlich nicht bewusst. Sie wurden in einer Welt geboren, in der der Staat als Gewaltmonopolist mit all seiner Dominanz einfach Teil des akzeptierten, nicht weiter hinterfragten Weltbildes ist.

Der Staat baut die Straßen, von ihm kommt das Geld, er kümmert sich um die Bildung, um das Gesundheitswesen, die Altersvorsorge und so weiter. Die Liste ist lang und sie wurde über die Jahre immer länger. Für die heute lebenden Generationen sind all diese Narrative so fest verankert in ihren Einstellungen und Überzeugungen wie die Wurzeln eines Baumes in der Erde.

Insofern ist es nur allzu offensichtlich, dass eine Weiterentwicklung zu einer friedlichen Gesellschaft und die Entfaltung der freiheitlichen Ideen vermutlich mehrere Generationen in Anspruch nehmen wird. Das soll uns nicht entmutigen, im Gegenteil! Auch 70-jährige Menschen pflanzen noch Bäume und erfreuen sich heute daran, dass ihre Enkel und Urenkel dereinst die Früchte ernten und im Schatten ihrer Äste sitzen werden.

Insofern ist es nur allzu offensichtlich, dass eine Weiterentwicklung zu einer friedlichen Gesellschaft und die Entfaltung der freiheitlichen Ideen vermutlich mehrere Generationen in Anspruch nehmen wird. Das soll uns nicht entmutigen, im Gegenteil!

Das eigene Denken kultivieren

Glücklicherweise werden trotz der langen Zeit, die es dauert, bis sie „ausgewachsen“ sind, Bäume gepflanzt. Das sollte auch auf die freiheitlichen Ideen Anwendung finden. Dieser Umstand ist gelebte Demut und gelebte niedrige Zeitpräferenz. Gehen wir also mit gutem Beispiel für die nachfolgenden Generationen voran und kultivieren wir heute den Boden für Bäume, die für die Ideen des Friedens und der Freiwilligkeit stehen, auch wenn wir selbst vielleicht nie im Schatten dieser Bäume sitzen werden.

Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant (1724–1804) schrieb in seiner berühmten Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784), das „Publikum“ könne nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch Revolution könne man sich zwar „persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung“ entledigen, aber durch eine Revolution käme es nicht zu einer „wahren Reform der Denkungsart“.

Vielmehr würden eben „neue Vorurteile“, also falsche Ideen, zusammen mit den alten zu Leitgedanken „des gedankenlosen großen Haufens“. Den Boden für diese „wahre Reform der Denkungsart“, für das „eigene Denken“ zu kultivieren, ist also ein Vorhaben, mit dem wir nicht neu beginnen müssen, sondern das wir in einer langen Tradition fortsetzen. ¡Venceremos!

Über den Autor:

Benjamin Mudlack ist gelernter Bankkaufmann und diplomierter Wirtschaftsinformatiker. Er ist Vorstandsmitglied der Atlas Initiative, Mitglied der Friedrich August von Hayek Gesellschaft und begleitet aktiv einige andere freiheitliche Projekte, wie zum Beispiel das jüngst neu gegründete Free Economic Forum.

Neben einigen Interviews sind zahlreiche Artikel von ihm erschienen zum Thema Geld beziehungsweise Geldsystem und Mittelstand. Benjamin Mudlack ist zudem Autor des im Lichtschlag Verlag erschienenen Buches „Geld-Zeitenwende – vom Enteignungsgeld zurück zum gedeckten Geld“.

Der Artikel erschien zuerst auf der Webseite des Ludwig Mises Instituts unter dem Titel „Warum Mileis Kettensäge die falsche Botschaft sendet“.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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