Der Terror als Videospiel: Was das Bekennerschreiben des Halle-Attentäters verrät
Der Anschlag vom Mittwoch (9.10.) in Halle an der Saale und die Begründung, die der mutmaßliche Täter Stephan B. in den Kommentaren zu seinem Video von der Tat und in einem kurzen Bekennerschreiben hinterließ, künden davon, wie wahnhafte Ideen, die im „aufgeklärten“ und industrialisierten Europa des 19. Jahrhunderts in ihre moderne Form gebracht wurden, ein Potenzial zur Radikalisierung, Fanatisierung und Zerstörung des Gemeinwesens entfalten.
Sprachidiom aus den einschlägigen Chatboards
Die Radikalisierung scheint dabei im Paralleluniversum einschlägiger Webforen und Plattformen stattgefunden zu haben, deren Mitglieder sich durch das gemeinsame Fetisch ihrer Hautfarbe verbunden fühlten und innerhalb ihrer Echokammer über die Jahre ihr eigenes Sprachidiom entwickelt haben.
Vom Täter ist beispielsweise eine über drei PDFs verteilte Nachricht bekannt geworden, die innerhalb der entsprechenden Kreise, in denen der mutmaßliche Attentäter verkehrt, die Runde macht. Der Journalist Jan-Hendrik Wiebe hat auf Twitter auf die Bekennerbotschaft aufmerksam gemacht. Ermittler haben gegenüber dem „Spiegel“ die Echtheit des Dokuments bestätigt.
Bereits die Selbstidentifikation als „anon“ deutet auf eine Nutzung einschlägiger Bereiche des Imageboards 4chan hin. Diesen Eindruck verstärkt der Umstand, dass Stephan B. seine Botschaften in englischer Sprache hält. Anders als der Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant, der Todesschütze von El Paso, Patrick Crusius, oder der Pionier des modernen Lone-Wolf-Rechtsterrorismus in Europa, Anders Breivik, sind die ideologischen Ausführungen darin eher knapp gehalten. Das Hauptaugenmerk gilt den selbstgebauten Waffen, auf die der Extremist offenbar besonders stolz war.
Der mutmaßliche Terrorist hat das Video, das er von seiner Bluttat angefertigt hat, auf Twitch gestreamt. Diese „Innovation“ scheint er vom Attentäter von Christchurch kopiert zu haben.
Den Holocaust gleichzeitig leugnen und anstreben
Inhaltlich bestätigt er in seiner Botschaft den Eindruck, dass er eigentlich die Synagoge stürmen wollte – bewusst am Tag des Jom-Kippur-Fests, um möglichst viele Juden töten zu können, die er als nicht zur „weißen Rasse“ gehörig betrachtet und als Köpfe einer „zionistisch besetzten Regierung“ bezeichnet. Aus diesem Grund habe er auch nicht ein „Antifa“-Kulturzentrum oder eine Moschee als Ziel auserkoren. Selbst wenn er versage und sterbe, „aber einen einzigen Juden töte, war es das wert“, heißt es in dem Pamphlet weiter: „Am Ende werden wir, wenn jeder weiße Mann nur einen tötet, gewinnen.“
Den Holocaust allerdings leugnete B. gleich zu Beginn seiner Videoaufzeichnung. Außerdem fordert er die Leser seines Pamphlets dazu auf, es ihm gleichzutun und „spontan“ ähnliche Aktionen durchzuführen. Anders als im Fall seiner Vorbilder von Christchurch und El Paso fehlen ökologische Anklänge in der Botschaft.
Einen ursächlichen und auch organischen Zusammenhang zwischen den Taten sieht allerdings Analystin Rita Katz, die auf Twitter erklärt, dass dem Rassenwahn verfallene weiße Extremisten ein ähnliches arbeitsteiliges Terrorsystem aufbauen könnten wie der „Islamische Staat“ (IS). Es handele sich demzufolge nicht um „isolierte Angriffe durch Leute, die nur die gleichen Ansichten teilen“. Die Attacke vom Mittwoch sei „ein weiterer Teilakt eines globalen terroristischen Netzwerkes, das ähnlich wie ISIS durch sichere Häfen im Internet miteinander verbunden ist“.
„Gamification“ des Terrors
Dies würde eine neue Entwicklungsstufe im rassistisch motivierten Terrorismus markieren. Die Idee des „einsamen Wolfes“, der Terror im Wege eines „führerlosen Widerstandes“ begeht, geht auf die „Turner Diaries“ des US-amerikanischen Neonationalsozialisten William Pierce zurück. Der NSU nahm sich dieses Konzept zur Inspiration, blieb dabei aber im Verborgenen und fertigte Bekennervideos nur für den Fall an, dass die Gruppe entdeckt werde. Bis dahin reichte es den Terroristen aus, innerhalb der eigenen Szene als Gerücht die Runde zu machen und für Angst in Einwanderercommunitys zu sorgen.
Der neue Rechtsterrorismus hingegen bekennt sich zu seinen Taten und inszeniert diese als Event, gleichsam als „Propaganda der Tat“.
„Tagesschau“-Hintergrundredakteur Patrick Gensing spricht zudem den Aspekt einer „Gamification“ des Terrors an. Die im realen Leben sozial oft isolierten Täter, deren Dasein sich vorwiegend um Computerspiele und ihre Online-Communitys rankt, verlieren dabei offenbar auch die Fähigkeit, die Grenzen zwischen Spiel und Realität zu erkennen:
In Online-Communities bewerten Nutzer Anschläge und vergeben Punkte dafür. Sogar einen Highscore gibt es. Terror und Gewalt werden in diesen Kreisen äußerst zynisch behandelt, als ob es sich lediglich um ein Spiel handele. Opfer werden verhöhnt, Hasskommentare gegen Minderheiten und Frauen sind Teil dieser Subkultur.“
Dass sein Plan, die Synagoge zu stürmen, scheiterte, veranlasste ihn dazu, sich nach greifbaren Ersatzopfern umzusehen – in diesem Fall eine Passantin und einen Mann in einem Dönerimbiss. Er konnte sich dennoch sicher sein, dass die Szene, der er sich zugehörig fühlt, ihn dafür feiern würde.
Instrumentalisierer als nützliche Idioten der Eskalationsstrategie
Inwieweit die Eskalationsstrategie von Extremisten wie Stephan B. aufgehen wird, ist unklar. In der Öffentlichkeit und den sozialen Medien war auf der einen Seite eine breite und über die Grenzen von politischen und weltanschaulichen Differenzen gehende Solidarität mit den Opfern zu bemerken – begleitet vom Appell an Zusammenhalt und Mäßigung innerhalb der Gesellschaft. Diese reichte von der Bundesregierung über Vertreter der Opposition von Hermann Otto Solms (FDP) bis hin zu Björn Höcke (AfD) und von Vertretern der christlichen Kirchen bis hin zur „Stiftung Bildung und Dialog“ deutscher Muslime aus der Gülen-Bewegung.
Auf der anderen Seite musste man aber auch auf Verschwörungstheorien und Instrumentalisierungsbemühungen nicht lange warten, die vom „False Flag“-Vorwurf angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Thüringen bis hin zur Behauptung einer „Mitverantwortung der AfD“ reichten. Sie illustrieren vor allem, wie weit in Deutschland bereits ein Zustand fortgeschritten ist, in dem die narzisstische Inszenierung des eigenen Narrativs notfalls auf Kosten des Gemeinwesens durchgezogen wird.
Im Grunde also genau das, was auch Terroristen wie Stephan B. bezwecken, deren Narrativ eben nicht den heldenhaften Kampf des moralisch Guten gegen die „Antidemokraten“ oder die „Rettung des Weltklimas“, sondern in dem Fall eben den „drohenden Untergang der weißen Rasse“ beschreibt. Der Grad der Militanz und die konstitutiven Fetische variieren, der Fanatismus und die Bereitschaft zur Dämonisierung des Feindes einen.
Politiker wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann oder Publizist Michel Friedman, die Anschläge wie in Halle zu Angriffen gegen die nachweislich unbeteiligte AfD nutzen, könnten in diesem Sinne zu nützlichen Idioten der Eskalationsstrategie der Terroristen werden. Es ist eben nicht nur ein Ungeheuer, das der Schlaf der Vernunft gebiert.
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