Sonntagsmärchen: Der Wunderbaum
Es war einmal ein kleines Dorf, so weltvergessen wie kein zweites. Dort wohnte Vater Mathes mit drei Söhnen. Hans, der jüngste, war der dümmste; doch dem tat die Dummheit gar nicht weh, ihm träumte oft, es werde aus ihm noch ein hoher Herr.
Im Dorf geschah einmal ein großes Wunder: Auf des Schulzen Grund und Boden sproß ein Baum empor, den niemand je gesetzt; der wuchs und war nach wenigen Tagen höher als ein Turm, nach wenigen Wochen drang sein Gipfel in die Wolken, bis er jedem Blick entschwand.
Von da an war das Dörflein ein berühmter Ort. Aus nah und fern kam groß und klein herbei und staunte diesen Wunderbaum mit offenen Augen an und wußte von den köstlich süßen Früchten – die kein Mensch gesehen – viel zu sagen. Auch die Königstochter stieg vom Schloß herab und wünschte sehnlichst, eine Frucht vom Gipfel dieses Wunderbaumes zu verkosten. Deshalb setzte großmütigst der König einen hohen Preis für den aus, dem es glückte, eine Frucht herabzuholen.
Hansls kecke Brüder wagten sich zuerst daran. Sie nahmen etliche Paar Schuhe mit, die warfen sie von Zeit zu Zeit herab, zum Zeichen, daß sie leben und noch steigen. Aber auf den Tod ermattet, kamen sie bald selber unten an, mit leeren Händen, arg beschämt, verlacht. Gewandte Kletterer aus Stadt und Land versuchten gleichfalls ohne Glück das schwere Werk. Jedoch als einer gar nicht mehr herunterkam, verging den andern alle Lust.
Der dumme Hansl war der allerletzte, der sich noch entschloß, hinaufzusteigen. Jedermann im Dorfe lachte ihn gehörig aus, sein Vater riet ihm flehend ab. Doch Hansl bat und bat, erinnerte den Vater auch an seinen Lieblingstraum von einer hohen Zukunft, und so gab der alte Mathes endlich nach. Er rüstete den Sohn mit zwölf Paar Stiefeln aus, er füllte seinen Brotsack bis zum Rand und gab dem dummen Hansl noch ein derbes Beil mit auf den Weg.
Das ganze Dorf begleitete den Hansl mit den Augen voller Neugier, Mitleid oder Spott, bis unser Steiger in der Höhe ganz verschwand. Als alle Leute ihn bereits verloren gaben, fiel das erste Stiefelpaar mit Löchern in den Sohlen auf die Erde, lange Zeit nachher das zweite, dritte, vierte und so fort. Weil jedes weitere mit um so größerer Wucht heruntersauste, wußte man genau, daß Hansl immer höher kam.
Die Stiefel und der Mundvorrat verschwanden unserm Steiger, ohne daß ihn Mut und Kraft verließen. Als es Abend ward, bemerkte er im Baumstamm eine Höhle, kroch hinein und grüßte freundlich ein steinaltes Weiblein, das dort wohnte und ihn liebreich aufnahm. Die gute Alte gab ihm Speise, Trank und Nachtherberge. Tags darauf, als Hansl fragte, ob er bald beim Gipfel an den Früchten sei, da rang die Frau entsetzt die Hände: „O Bub, du hast noch weit; denn ich bin erst der Mondtag. Du mußt noch zum Irtag und zum Wodanstag, zum Donarstag, zum Friatag und Sonnabend hinauf, dann bist du nah am Ziel.“
Es war so, wie die Alte ihm gesagt. Der dumme Hansl kletterte, wer weiß wie lang, und half sich mit dem letzten Rüstzeug, das ihm treu geblieben war, dem Beil, so gut es ging. Als mit der Sonne seine Kräfte sanken, kam er an der Irtaghöhle in dem Stamme an. Auch dort bewirtete ihn eine gute Frau, die ihn am Morgen mit dem Wunsch entließ: „Es möge dir bei Wodan und bei Donar, meinen Nachbarn, wohl ergehen!“
Die beiden Männer, deren Gastfreundschaft der dumme Hansl bald genoß, bewiesen ihm die gleiche Güte und begleiteten sein Scheiden mit den besten Wünschen.
Hansls Kleider waren arg zerschlissen, als er, wieder ruhebedürftig, an der Friataghöhle Einlaß heischte und erhielt. Die fürsorgliche Hausfrau tat noch mehr als alle frühern; denn sie flickte ihm, indes er schlief, die Kleider sauber aus. So konnte Hansl, wenn auch barfuß, doch recht nett und rein, den Aufstieg zum Sonnabend wagen. In ihm sowie um ihn war jetzt alles anders als bisher, war alles heller, freier, leichter. Ob auch nun sein treues Beil schon stumpf war und den Dienst versagte, kam der dumme Hansl mühelos hinauf und immer mehr hinan zu einer kleinen Pforte, deren Schloß und Schlüssel weithin glitzerte in purem Gold. Er ahnte, an der Tür des Sonnabends zu sein, und als er öffnete, betäubte ihn ein Glanz und Duft so sehr, daß ihm das Beil entglitt und er zu Boden sank.
Es war ein langer, tiefer Schlaf, aus dem den dummen Hansl süße Stimmen weckten. Hastig griff er nach dem Beil, das nun in hellem Gold erstrahlte, und der Glanz und Duft, die ihn zuerst betäubt, erfüllten ihn mit frohestem Entzücken. Er sah den Gipfel und die Früchte an dem Wunderbaum, und das genügte ihm zu seinem Glück. Sein Märchentraum von einer hohen Zukunft war erfüllt. Hier schwand ihm das Gedächtnis für sein Erdenleben, für sein Heimatdorf und für die Königstochter, der er doch die Wunderfrüchte bringen sollte. Er faßte den Entschluß, in dieser Himmelshöhe zu verbleiben, und wenn er wirklich nicht mehr abgestiegen oder gar gestorben ist, so lebt er heut noch glücklich und zufrieden dort, mag auch die Königstochter unten warten.
Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,
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