Sonntagsmärchen: Der gerechte Lohn
Ein Vater hatte drei Söhne. Von denen waren die beiden Älteren faul, aber dabei stolz und hochfahrig und böse von Herzen, der Jüngste aber treu und fleißig und dabei bescheiden und die Geduld und Gottseligkeit selbst. Doch weil er klein und schwächlich war von Körper, blieb er meist daheim, und seine Brüder nannten ihn Spottweise nur Aschenputtel, und auch Vater und Mutter hatten ihn leider nicht so lieb als die beiden andern. Eines Tages sagte der älteste Sohn: „Vater, ich will in die Fremde ziehen und mir Schätze und Ruhm erwerben!“
„Lasse das gut sein“, sprach der Alte, „du kennst die Fremde nicht und könntest mir leicht nur Spott und Schande machen!“ Allein der Sohn bestand fest darauf und gab keinen Frieden, bis sein Vater einwilligte. Da buk ihm seine Mutter einen Kuchen aus Semmelmehl, und am andern Morgen zog er fort.
Als nach einiger Zeit der Hunger sich bei ihm einstellte, setzte er sich auf einen Berg nieder, holte aus seinem Reisesack den Kuchen hervor und aß. Da kam ein armer Bettler hinzu und sprach: „Gott gesegne es!“ und bat um einen Bissen. „Gehst du mir gleich aus den Augen, du alter Lump!“ tobte der Junge und nahm seinen Stock und drohte. Der Bettler schleppte sich mühsam fort und rief: „Wehe dir, das wird dir vergolten werden!“ Nun flogen kleine Vöglein herbei und wollten die Brosamen, die zur Erde gefallen waren, auflesen.
Der Junge aber schlug mit dem Stock und warf mit Steinen nach ihnen. Die Vöglein flogen fort und riefen: „Der liebe Gott wird es dir vergelten!“ Endlich brach er wieder auf, und wie er schon weit, weit gegangen war, begegnete ihm ein alter Mann, der fragte ihn, wohin er es gestellt habe. „Ich will dienen gehen und mir Schätze und Ruhm erwerben!“ – „Das kannst du bei mir beides gewinnen, wenn du mir dienen willst. Du sollst nur meine Schafe weiden und besorgen, und wenn du dies treu und unverdrossen tust, so wirst du nach einem Jahre einen Sack voll Geld dafür haben.“ Das gefiel dem Jungen, und er schlug ein.
Nun zog er mit den Schafen in eine Berggegend, die ihm der Alte zeigte, wo gute Weide war, aber er war faul und schlecht. Er schlief fast den ganzen Tag, rührte die Schafe nicht zur gehörigen Zeit zur Tränke und nie auf frische Weideplätze, und wenn eins von der Herde sich zu weit entfernte und verirrte, ging er ihm nicht nach, sondern ließ es zugrunde gehen. Alle wurden mager, und viele starben.
Er schlug auch die Hunde und – was noch schlimmer war – er warf auch die kleinen unschuldigen Vöglein, die aus den Dornsträuchern zu ihren Nestern Wolle holten, mit Steinen tot. Das Jahr währte ihm zu lange, und als endlich das Ende da war, ging er keck vor seinen Herrn und forderte den bedungenen Lohn. „Den sollst du haben, wie du ihn verdient hast!“ Damit führte er ihn in eine Kammer, und da standen drei Säcke, einer mit Gold-, der andere mit Silber-, der dritte mit Kupferstücken gefüllt: „Nimm dir einen von diesen, aber hast du unredlich gedient, so wird es dir nichts nützen!“
Der Bursche griff gleich nach dem Goldsack, nahm ihn auf seinen Rücken und zog fröhlich nach Hause. Als er hier ankam, rief er: „Jetzt, Vater und Mutter, brauchen wir nicht mehr zu arbeiten. Mit dem, was ich verdient habe, können wir immer lustig leben. Ich bringe lauter Gold!“ Da setzte er seinen Sack nieder und band ihn schnell auf, um ihnen die funkelnden Goldstücke zu zeigen. Allein da war alles im Sack purer Sand. „Sagte ich’s doch“, sprach sein Vater, „dass du mir und dir nur Schande und Spott zuziehen würdest!“ Der stolze Prahler wagte nichts zu sprechen, denn er dachte jetzt der letzten Worte des alten Mannes, des misshandelten Bettlers, der Vöglein und seines unredlichen Dienstes.
Nicht lange, so kam der zweite Sohn und sprach: „Vater, ich will jetzt auch dienen gehen und mein Glück versuchen!“ Der Alte suchte ihn umsonst abzuhalten. Er blieb hartnäckig bei seinem Vorsatz. Da buk ihm seine Mutter einen Reisekuchen aus Brotmehl, und am andern Morgen machte er sich auf den Weg. Es ging ihm aber fast ganz wie seinem Bruder. Denn er war ja auch nicht viel anders und besser. Wie er auf dem Wege aß und der alte Bettler ihn um einen Bissen ansprach, hob er den Stock. Er schlug und warf auch nach den Vöglein, und in seinem Dienst war er ebenso faul und bösartig.
Kaum war das Jahr zu Ende, so lief er auch schnell zu seinem Herrn und verlangte den bedungenen Lohn. Der führte ihn auch in die Kammer, wo die drei Säcke mit Gold-, Silber- und Kupferstücken standen. „Nimm dir einen!“ sprach der Alte, „warst du aber unredlich im Dienste, so wird es dir nichts nützen!“ Er war etwas bescheidener als sein Bruder und nahm nur den Sack mit den Silberstücken. Denn er wusste wohl, dass er auch den nicht verdient hatte.
Als er nun heimkam, rief er schon aus der Ferne seinen Eltern entgegen: „Jetzt brauchen wir nichts mehr zu arbeiten, denn ich bringe in diesem Sack lauter Silber!“ Wie er aber den Sack niedersetzte und öffnete – siehe, da war alles purer Sand. „Sagte ich’s doch, dass es so kommen würde!“ sprach seufzend sein Vater. Der Sohn aber wagte wie sein Bruder nichts zu sagen. Denn er gedachte auch sogleich an die letzten Worte des alten Mannes, an den Bettler, die Vöglein und an seinen unredlichen Dienst.
Bald darauf trat der jüngste Sohn zum Vater und sprach: „Lieber Vater, ich will auch dienen gehen und mein Glück versuchen!“ Ihn wollte der Alte nun durchaus nicht fortlassen. „Wo denkst du hin? Deine Brüder haben mir nur Spott und Schande gebracht, was würde ich von dir erst erleben!“ Der Kleine bat aber so lange, bis sein Vater sprach: „Nun, so gehe in Gottes Namen!“ Wer konnte froher sein als der Aschenputtel! Seine Mutter buk ihm einen Reisekuchen aus Asche, und am andern Morgen, ganz früh, trat er seine Wanderung an.
Da kam er an den nämlichen Berg, wo seine Brüder gespeist hatten, und weil ihn der Hunger quälte, setzte er sich nieder und packte aus. Bald kam auch der alte Bettler und sprach: „Gott gesegne es!“ und bat um einen Bissen. „Setzet Euch her, armer Mann, neben mich!“ und er teilte den Aschenkuchen mit ihm, und sie aßen und sahen um sich in die schöne Landschaft, die im Sonnenschein glänzte.
Da hüpften auch die Vöglein hinzu und pickten die Brotsamen auf, und des freute sich der Junge, und er zerbröckelte den ganzen Rest von seinem Kuchen und streute ihn den hungrigen Vöglein vor. Darauf nahm er seinen Tornister an die Seite, um fortzugehen, und sagte zum Alten: „Behuf dich Gott!“ Dieser aber nahm ein Pfeifchen aus seinem Sack und schenkte es dem Jungen, weil er so freundlich gewesen und ihn gespeist hatte, und die Vöglein sangen ihm nach: „Der liebe Gott wird es dir vergelten!“
Als er jetzt ein gutes Stück weitergegangen war, begegnete ihm der nämliche alte Mann, der auch seine Brüder in den Dienst genommen hatte. „Wo gehst du hin, lieber Junge?“ – „Ich möchte gerne dienen und etwas erwerben, um meinen armen Eltern zu vergelten, was sie an mir getan haben.“ – „Das kannst du bei mir in einem Jahr verdienen, wenn du treu und unverdrossen bist.“ Der Junge versprach dieses, und so nahm ihn der Alte an und führte ihn zu seiner Herde und sprach: „Weide meine Schafe und besorge sie, dass es ihnen wohl geht und kein Schade geschieht.“
Der Junge war, so wie er’s versprochen hatte, willig und unverdrossen in seinem Dienst. Er trieb die Herde immer auf die besten Weideplätze und zur gehörigen Zeit zur Tränke, und wenn sich eines zu sehr entfernte und verirrte, so ging er ihm nach und brachte es mit seinen Hunden wieder zur Herde. Wenn nun alle Schafe satt waren und im Sonnenschein dalagen, so setzte er sich auch nieder, und die treuen Hunde lagerten sich neben ihm.
Dann nahm er sein Pfeifchen und spielte darauf so lieblich, dass die Vöglein, die von den Dornsträuchern Wolle zu ihren Nestern sammelten, ihre Arbeit ließen, eine Zeitlang horchten und zuletzt selbst dreinsangen. Das gefiel dem Jungen so gut, dass er nun oft und oft spielte, und auch die Schafe waren ruhig, und die Hunde sahen ihn mit ihren treuen Augen an und bellten nicht, wie andere Hunde bei der Musik tun, sondern lagen ruhig und horchten. Wenn nun ein Weideplatz keine Nahrung mehr bot, so zog er weiter und durchstreifte so fast das ganze Gebirge.
Eines Tages erblickte er nur einmal auf einer Anhöhe zwischen schattigem Gebüsch eine große Kirche, die hatte er noch nie gesehen. Er trat näher und sah, dass alle Türen offen standen. Die Kirche war drinnen so rein gekehrt und so schön, dass er in Verwunderung lange vor der Tür stehen blieb. Er ging dann langsam und leise hinein. Aber in der Kirche war kein Priester und sonst keine irdische Seele. Still war alles ganz und gar. Wie er vor den Altar trat, sah er über dem Kreuz des Erlösers ein Vöglein schweben. Das flog jetzt herunter, ließ sich auf seine rechte Schulter und sang: „Gott ist mit dir!“ Darauf flog es wieder hinauf an seine Stelle. Der liebliche Sang aber tönte fort in seinem Herzen.
Er kehrte darauf zur Herde zurück und weidete die Schafe. Da kam sein Herr zu ihm und sprach mit freundlicher Stimme: „Das Jahr ist um. Du hast mir treu gedient, das sehe ich an meiner Herde. Komme nun und empfange den verdienten Lohn!“ Es war dem Jungen sehr leid, dass er sich von der lieben Herde und der schönen Gegend trennen sollte, und es schien ihm fast unmöglich, dass schon ein Jahr vergangen. Er hätte gern ein zweites Jahr und noch länger dem guten Manne gedient.
Allein da dachte er an seine armen Eltern, und so wünschte er, diese bald zu sehen und zu erfreuen. Sein Herr führte ihn nun auch in die Kammer, wo die Geldsäcke standen, und hieß ihn einen Sack sich auswählen. Das Gold und Silber blendete den Jungen nicht. Er sagte gleich: „Den Sack mit dem Kupfergeld möchte ich wohl nehmen, obgleich ich ihn auch nicht verdient habe, nur um meinen armen Eltern helfen zu können!“
„Du sollst ihn haben, mein lieber Junge, und obendrein auch die beiden andern Säcke. Kehre nur heim. Ich schicke dir bald einen Wagen mit den Schätzen nach!“ Da nahm der Junge seinen Wanderstab und zog heimwärts. Als er auf dem Berge angelangt war, wo er mit dem alten Bettler und den Vöglein seinen Aschenkuchen verzehrt hatte, ruhte er wieder ein wenig aus. Aber jetzt hatte er keinen Hunger. Er nahm sein Pfeifchen und spielte so lieblich, dass die Vöglein, die er früher gespeist hatte, herbeiflogen, horchten und laut mit dareinsangen.
Darauf zog er weiter und war in kurzem zu Hause und erzählte nun seinen Eltern von den Wunderdingen, die er gesehen und erlebt, und von den Schätzen, die ihm der alte Mann bald nachschicken werde. Seine beiden Brüder, die in der letzten Zeit ihren armen Vater durch ihre Faulheit und Bosheit in große Not gebracht hatten, hörten das alles mit an, fingen darauf an zu lachen und zu spotten: „Wir haben wenigstens jeder nur einen Sack voll Sand heimgebracht. Du aber wirst nun gewiss eine ganze Fuhre Asche erhalten. Es ist auch ganz recht, warum wärest du sonst der Aschenputtel!“
Er aber kehrte sich nicht an den Spott und war in seinem Herzen überzeugt, dass sein Glück wahr sei. Nur einmal hörte man, dass ein Wagen vor dem Hause halte. Sie gingen gleich alle hinaus. Kein Mensch war beim Wagen. An der Seite des Wagens stand aber mit großen Goldbuchstaben: „Wagen und Gespann und die drei Säcke mit dem Gold, Silber und Kupfer schickt der alte Mann seinem treuen Hirten, der ihn zuerst als Bettler so freundlich gespeist, der ihm dann seine Schafe wohl geweidet und besorgt und auch seiner lieben Vöglein sich erbarmt hat!“ Der Junge trieb nun den Wagen in den Hof und lud die Säcke ab.
Da war die Freude des Aschenputtels und seines Vaters und seiner Mutter unermesslich. Diese bereuten es nun und schämten sich, dass sie ihren Jüngsten nicht so wie die altern Söhne geliebt hatten und baten ihn um Verzeihung. Er aber sprach: „Höret auf. Ich habe ja doch alles Euch zu verdanken!“ Aber die beiden ältern Brüder konnten das große Glück ihres jungem Bruders nicht ertragen, sie liefen fort wie wahnsinnig, und kein Mensch hat sie weiter gesehen noch gehört, was aus ihnen geworden.
Der Aschenputtel aber war nun ein reicher Mann und lebte noch viele Jahre mit seinen Eltern glücklich und zufrieden und stiftete mit seinem Reichtum viel Gutes. An schönen Tagen nahm er oft sein Pfeifchen und ging auf einen Berg und spielte und horchte auf den Gesang der Vögel.
Da zogen die alten Erinnerungen aus seinem Hirtenjahr vor seiner Seele vorüber, und wenn er am seligsten war, so schien es ihm, als wäre er in jener großen Kirche und sehe die stille Pracht um sich und das Goldvöglein flöge hernieder auf seine Schulter und singe den wunderlieblichen Gesang: „Mit dir ist Gott!“
Aus der Sammlung von Josef Haltrich (1822-1886)
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