Sonntagsmärchen: Das Rätsel

Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust, in der Welt herumzuziehen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tages geriet er ... ein Märchen der Gebrüder Grimm.
Titelbild
Das Schloss von Glamis ist eine typische schottische Burg, stattlich, voller Türme und Zinnen. Vielleicht lebte die Märchenprinzessin hier...Foto: iStock
Epoch Times7. April 2024

Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust, in der Welt herumzuziehen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tages geriet er in einen grossen Wald, und als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wusste nicht, wo er die Nacht zubringen sollte.

Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war. Er redete es an und sprach: „Liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen für die Nacht ein Unterkommen finden?“

„Ach ja“, sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, „das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu; geht nicht hinein.“

„Warum soll ich nicht?“ fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach: „Meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meint’s nicht gut mit den Fremden.“

Da merkte er wohl, dass er zu dem Hause einer Hexe gekommen war, doch weil es finster ward und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, so trat er ein. Die Alte sass auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. „Guten Abend“, schnarrte sie und tat ganz freundlich, „lasst euch nieder und ruht euch aus.“ Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen Topf etwas kochte.

Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke. Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen. Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde sass, sprach die Alte „warte einen Augenblick, ich will euch erst einen Abschiedstrank reichen.“

Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war allein noch zugegen, als die böse Hexe mit dem Trank kam. „Das bring deinem Herrn“, sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas, und das Gift spritzte auf das Pferd, und war so heftig, dass das Tier gleich tot hinstürzte.

Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was geschehen war, wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, sass schon ein Rabe darauf und frass davon. „Wer weiss, ob wir heute noch etwas Besseres finden“, sagte der Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit. Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber nicht herauskommen.

Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube geraten, und in der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und berauben.

Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch, und der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie assen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war. Kaum aber hatten sie ein paar Bissen hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn dem Raben hatte sich das Gift von dem Pferdefleisch mitgeteilt.

Es war nun niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon, und ritt mit seinem Diener weiter.

Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne, aber übermütige Königstochter war, die hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlegte, das sie nicht erraten könnte, der sollte ihr Gemahl werden: erriete sie es aber, so müsste er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen, sie war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit erriet.

Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte und, von ihrer grossen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen wollte. Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel auf: „Was ist das“, sagte er, „einer schlug keinen und schlug doch zwölfe.“ Sie wusste nicht, was das war, sie sann und sann, aber sie brachte es nicht heraus: sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht darin: kurz, ihre Weisheit war zu Ende.

Da sie sich nicht zu helfen wusste, befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte sie seine Träume behorchen, und dachte, er rede vielleicht im Schlaf und verrate das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt, und als die Magd herankam, riss er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruten hinaus.

In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen, ob es ihr mit Horchen besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit Ruten hinaus.

Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und legte sich in sein Bett, da kam die Königstochter selbst, hatte einen nebelgrauen Mantel umgetan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er schliefe und träume, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traume antworten, wie viele tun: aber er war wach und verstand und hörte alles sehr wohl.

Da fragte sie: „Einer schlug keinen, was ist das?“ Er antwortete: „Ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde frass und davon starb.“ Weiter fragte sie: „Und schlug doch zwölfe, was ist das?“ „Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran starben.“ Als sie das Rätsel wusste, wollte sie sich fortschleichen, aber er hielt ihren Mantel fest, dass sie ihn zurücklassen musste.

Am andern Morgen verkündigte die Königstochter, sie habe das Rätsel erraten, und liess die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat sich Gehör aus und sagte: „Sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht erraten.“

Die Richter sprachen: „Bringt uns ein Wahrzeichen.“ Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie: „Lasst den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wirds Euer Hochzeitsmantel sein.

Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion