Florian, der Karpfen

Beim Schlendern durch ein Buchgeschäft sprang mir ein in jadegrünes Leinen gebundenes Büchlein mit silbernen Lettern und einer zauberhaften Fischzeichnung ins Auge.
Titelbild
Foto: Büchergilde Gutenberg
Von 24. Oktober 2023

Siegfried Lenz, einer der bedeutendsten Nachkriegsschriftsteller, der in seiner masurischen Heimat Schwimmen und Angeln vor dem Lesen lernte und im Zweiten Weltkrieg bei der Kriegsmarine diente, pflegte wie viele Schriftsteller eine besondere Beziehung zum Wasser.

Manfred Mixner hat im Buch „Die Welt im Trüben“ den elementaren Zusammenhang zwischen dem Dichten und dem Angeln auf den Punkt gebracht:

„Der Angler muß sich aus seiner Wirklichkeitserfahrung heraus eine Welt unter der Wasseroberfläche vorstellen, er muß sich in das nur ausnahmsweise mal sichtbar werdende Verhalten der Fische hineindenken und sein eigenes Handeln dann danach ausrichten, er muß entsprechendes Gerät zur Hand haben, die Fische anlocken, sie dazu bringen, daß sie sich für seinen Köder interessieren, sie schließlich an den Haken bekommen und aus dem Wasser holen.“

Dichten – nach Wörtern angeln

“Wenn sein Bild von der Welt im Trüben richtig ist, dann hat der Angler Erfolg. Und wie der Angler muß auch der Dichter aus seiner Wirklichkeitserfahrung heraus sich eine Welt vorstellen, er muß in seinem Kopf Sprachkonstellationen bauen, er muß versuchen, sich über seine eigene und über die Bewußtseinswirklichkeit anderer Menschen die richtige Vorstellung zu machen, er muß immer wieder Zugang finden zur Welt des Unbewußten.“

„Und wenn er die richtigen Bilder gefunden und die richtigen Zeichen gesetzt hat, wird ihm sein Werk gelingen. Nicht ohne Grund haben die Psychoanalytiker für das Unbewußte des Menschen das Bild des Sees gewählt, unter dessen Oberfläche das Verdrängte, das Vergessene, das Unbeachtete, die verlorene Erinnerung schlummert.“

Im Zentrum dieses kleinen Kindermärchens, welches 1953 im Kinderfunk des NDR gesendet und Jahrzehnte später im Nachlass des Autors gefunden wurde, stehen der Junge Karlchen und der Karpfen Florian.

„Florian, der Karpfen“ besticht mit klaren Illustrationen. Foto: Büchergilde Gutenberg

Der Karpfen, den die Römer im zweiten Jahrhundert nach Deutschland brachten, ist ein kluger und kampfstarker Fisch. Schon in Isaak Waltons Buch „Der vollkommene Angler“ von 1653 wird er als „edel“ und „stattlich“ gelobt.

Argwöhnisch – durch seine Lernfähigkeit – untersucht er oft die dargebotenen Köder mit seinem rüsselartigen Maul, um dann wieder in der undurchdringlichen Tiefe zu verschwinden.

Im Verhältnis zu seiner Körpergröße kann er zudem eine ungeheure Kraft aufbringen. Hängt er am Haken, beginnt ein Duell mit dem Angler. Gibt dieser dem Fisch mit der Rollenbremse keine Schnur, riskiert er, dass sie zerreißt oder der dünndrahtige Haken ausschlitzt.

Im Ringkampf mit den Karpfen

Immer wieder taucht der Karpfen in der deutschsprachigen Literatur auf – ob ihn der begabte Hans Giebenrath in „Unterm Rad“ von Hermann Hesse angelt oder ob er als Festspeise am Heiligabend in „Buddenbrooks“ bei Thomas Mann dargeboten wird. Der passionierte Angler und Schwimmer John von Düffel beschreibt in seinem Roman „Vom Wasser“ die Kraft dieser Tiere:

„Wenn dann die Wellenkämme über den breiten Fischrücken auf uns zukamen, warfen wir uns auf die gewaltigen Tiere, rangen sie nieder und nahmen sie buchstäblich in den Schwitzkasten. Dabei versetzten uns die Karpfen oft dermaßen heftige Hiebe in die Magengrube oder in die Seite, daß wir sie nach einem kurzen Ringkampf wieder ziehen lassen mußten.“

Als der Karpfen 1999 von einer internationalen Jury, die „aus tausend petrischen Sachverständigen bestand“, zum „Fisch des Jahrhunderts“ gewählt wurde, rühmte ihn Siegfried Lenz in seiner Laudatio als Herausforderung für jeden Angler „mit seiner oft bewiesenen Schläue, mit seinem Argwohn, mit seiner unvermuteten Kampfnatur.“

Das kleine Märchen „Florian, der Karpfen“ – in einer anderen Veröffentlichung gerade mal 20 Seiten lang – wird in diesem Büchlein mit zauberhaften Illustrationen von Marie Abramowicz auf knapp 50 Seiten gestreckt.

Karlchen und die Fische

Der Junge „Karlchen wohnte an einem schönen, grünen, schilfbedeckten See und er lag oft und lange auf einem Holzsteg und beobachtete die Fische.“ Dies erinnert an die wenigen autobiografischen Auskünfte, welche Lenz von sich gab. In seinem Buch „Ich, zum Beispiel schreibt er: „Ich wohnte in einem kleinen Haus am Seeufer, und der Lyck-See war für mich die Welt im Spiegel.“

Karlchen wünscht sich ebenfalls „eine schöne, silberne Schwimmblase“, um es ihnen gleichzutun. Die von ihm befragten Erwachsenen können ihm nicht helfen, doch er findet Unterstützung bei freundlichen Haubentauchern, die ihn unter Wasser durch den See ziehen.

Foto: Büchergilde Gutenberg

Jetzt beginnt eine Heldenreise, bei der er die beiden Hechte Napoleon und Schluckauf, den Krebs Hans von Zwickau, das Brassenmädchen Rosa und eine fröhliche Gruppe junger Barsche kennenlernt. Doch woher die Fische ihre Schwimmblasen erhalten, bleibt ein Rätsel. Erst als er das Maränenmädchen Blinkerchen rettet und sie unter Druck setzt, kommt er dem Geheimnis auf die Spur und findet schließlich den Karpfen Florian, welcher von einem Neunauge beschützt wird.

Das eitle Neunauge – eigentlich kein Fisch, sondern ein lebendes Fossil – ist über den menschlichen Eindringling alles andere als amüsiert, lässt sich aber von Karlchen bestechen. Der Karpfen Florian zeigt sich erst am Ende der Geschichte als ein schwer atmendes, uraltes Wesen am Grund des Sees.

Alt, taub und blind ist er ein begnadeter Kunstluftblasenbildner, der den Jungtieren in einer Art Taufakt ihre Schwimmblasen schenkt. Die Kindergeschichte erfährt in einer spielerischen Leichtigkeit noch einige unvorhersehbare Wendungen, die an dieser Stelle nicht verraten werden sollen.

Am Ende des schmalen, schönen Büchleins findet der Leser das Gedicht „Die Fische, mit dem der junge Student 1948 im grauen, kriegszerstörten Hamburg seines masurischen Sees gedachte.

Eigene Karpfen – zur Meditation

Siegfried Lenz empfand zeit seines Lebens für den Lebensraum Wasser und seine Bewohner eine tiefe Sympathie. In seinen letzten Lebensjahren verließ den Schriftsteller mit der hohen Sensibilität und gütigen Einfühlsamkeit sein Jagdtrieb. Er hörte mit dem Angeln auf und legte im Garten seines Sommerhauses in Tetenhusen bei Rendsburg einen „Gnadenteich an.

Hier hielt er seine eigenen Karpfen, die das Ehepaar Lenz allabendlich von seinem „Meditationsbänkchenbeobachtete. Wie sein Freund, der Bundeskanzler Helmut Schmidt, gerne berichtete, kamen die Tiere, welche für Lenz „von verblüffender Schönheit“ waren, angeschwommen, wenn sie seine Schritte vernahmen und sperrten ihre Mäuler auf. Den Altkanzler erfreute die Freude seines Freundes Siggi, was jener wiederum kommentierte mit: „Das ist auch eine Art, Freude zu beziehen.“

„…Einmal möcht‘ ich nur so wohnen
stumme Fische! Und Millionen
weißer Wunderperlen atmen.
Hin und her im Licht der Kiesel,
ausgelassen auf dem Grunde,
ohne Nachricht, ohne Kunde,
lüstern im Gewand von Flitter.

…Ach und schöne,
unvergleichlich helle Töne
würde ich im Flimmern sehn.
Purpurflossen würd‘ ich haben

und mich gut und reichlich laben
an der bunten Wirklichkeit…“

Pressestimmen

„Vor allem aber zeichnet Lenz das Bild einer durch und durch freundlichen Natur, die dem kleinen Menschen voller Wohlwollen und Gesprächsbereitschaft entgegenkommt.“
― Süddeutsche Zeitung

„In dieser Geschichte steckt mehr als eine wunderschöne Gutenachtgeschichte. Hier geht es um Mut, um Übermut und – den Blinddarm.“
― NDR

„Schlau, argwöhnisch, kämpferisch […]“
― Der Tagesspiegel

„[…] Lenz [setzt] den faszinierenden Fähigkeiten der Fische ein fantasievolles Denkmal […].“
― Welt am Sonntag

„Das ist mehr als nur Naturschutz. Es ist die tiefe Einsicht, die Welt anzunehmen, wie sie ist, und zu akzeptieren, dass es Wunderbares auch und vor allem ohne den Menschen gibt.“ — Lothar Schröder ― Rheinische Post

„Märchen mit Moral […]“
― Münchner Merkur

„Eine kurze, wunderbare Liebeserklärung an die Wasserwesen mitsamt erhellender, sorgsam ausgewählter Begleittexte. Eine Perle.“
― HÖRZU/Gong

„Ein kleines, beschützendes, liebendes Buch. Tut gut.“
― Kurier

Zum Autor

Siegfried Lenz (1926–2014), geboren im ostpreußischen Lyck, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.

Er ist Autor von Romanen, Erzählungen, Essays und Bühnenwerken und wurde vielfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte.

Marie Abramowicz schloss 2023 den Master of Arts Illustration/Kommunikationsdesign ab und arbeitet für verschiedene Verlage und Auftraggeber. Gerne zeichnet sie mit dem Kugelschreiber, wie sie es auch für die Bilder in „Florian, der Karpfen getan hat.
https://marieabramowicz.myportfolio.com/

Foto: Büchergilde Gutenberg

Titel: Florian, der Karpfen
Autor: Siegfried Lenz
Illustratorin: Marie Abramowicz
Verlag: Büchergilde Gutenberg
Verlagslink: https://www.buechergilde.de/shop/produkte/174502-florian-der-karpfen
ISBN: 978-3-7632-7450-5

Diese Rezension erschien zuerst bei Krautjunker.com unter dem Titel: „Florian, der Karpfen“.



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