Die Reise des Lebens
Thomas Coles berühmte vierteilige Serie „Die Reise des Lebens“ zeichnet die Reise eines archetypischen Helden entlang des „Flusses des Lebens“ nach. Selbstbewusst nimmt der Reisende sein Schicksal in die Hand und ist sich der Gefahren, die ihn erwarten, nicht bewusst. Er strebt kühn danach, ein Luftschloss zu erreichen, das für die Tagträume der „Jugend“ und ihr Streben nach Ruhm und Reichtum symbolisch ist. Als der Reisende seinem Ziel entgegenstrebt, weicht der immer turbulenter werdende Strom von seinem Kurs ab und der Reisende erlebt die Naturgewalten, böse Dämonen und Selbstzweifel, die seine Existenz bedrohen.
Die vier Bilder, die in der National Gallery of Art in Washington ausgestellt sind, gehören zur zweiten Version von Coles berühmtester Serie „The Voyage of Life“ und wurden 1846 fertiggestellt.
Das Konzept für die Serie von vier Leinwänden, die einen Fluss und einen Reisenden als Metapher für den Verlauf des menschlichen Lebens zeigen, geht auf früheste schriftliche Beschreibung des Projekts vom Herbst 1836. Thomas Cole befand sich damals an einem wichtigen Punkt seiner Karriere. Er hatte gerade seine erste monumentale Serie, „The Course of Empire“, abgeschlossen und dachte zweifellos über eine geeignete Fortsetzung nach. Die Darstellung der Entwicklung des menschlichen Lebens, wie er es in „The Course of Empire“ mit dem Leben einer großen imaginären Zivilisation getan hatte, mag schon lange in seinem Kopf gewesen sein. Der Tod seines Freundes und Mäzens Luman Reed im Juni 1836 hat diese Idee sicherlich noch verstärkt. Coles schriftliche Beschreibung von 1836, „Allegorie des menschlichen Lebens – eine Serie“, ist detailliert genug, um darauf hinzuweisen, dass sein Vorhaben bereits recht weit fortgeschritten war.
Cole stand allerdings vor einem ganz besonderen kompositorischen Problem. Um das Leben zu symbolisieren, musste er sowohl zeitliche Veränderungen (am deutlichsten durch die Darstellung des alternden Reisenden) als auch landschaftliche Veränderungen darstellen, um zu verdeutlichen, dass jeder Lebensabschnitt an einem anderen Punkt entlang des Stroms stattfand. So machte Cole seine Absichten in „Die Reise des Lebens“ absolut deutlich: Der Reisende altert eindeutig; der Strom und die Landschaft ändern ihren Charakter; das Sanduhrenglas leert sich; das Leben vergeht.
Außerdem verfasste der Künstler zu jedem Bild ausführliche Erläuterungstexte. Diese Texte wurden in Zeitschriften und in den Ausstellungskatalogen zur Serie abgedruckt. Sie sind es wert, hier vollständig zitiert zu werden, da sie Coles Gedankengang kurz und bündig und mit einer gewissen Wortgewandtheit zum Ausdruck bringen. Aber was noch wichtiger ist: Egal, wie oft „The Voyage of Life“ als Ganzes oder in seinen Bestandteilen analysiert wird, letztlich sind Coles eigene Worte immer noch der beste Wegweiser für diese besondere Bilderreise:
ERSTES BILD: KINDHEIT
Man sieht einen Bach, der aus einer tiefen Höhle an der Seite eines zerklüfteten und steilen Berges entspringt, dessen Gipfel in Wolken verborgen ist. Aus der Höhle gleitet ein Boot, dessen goldener Bug und Seiten mit Figuren des Stundengebets verziert sind. Gesteuert von einer Engelsgestalt und beladen mit Knospen und Blumen trägt es ein lachendes Kind, den Reisenden, dessen abwechslungsreichen Weg der Künstler darzustellen versucht hat.
Zu beiden Seiten sind die Ufer des Flusses mit üppigen Kräutern und Blumen bedeckt. Die aufgehende Sonne taucht die Berge und die blühenden Ufer in ein rosiges Licht. Die dunkle Höhle ist ein Sinnbild für unseren irdischen Ursprung und die geheimnisvolle Vergangenheit. Das Boot, das sich aus Figuren des Stundenbuchs zusammensetzt, stellt den Gedanken dar, dass wir in den Stunden den Strom des Lebens hinuntergetragen werden. Das Boot identifiziert das Thema eines jeden Bildes. Das rosige Licht des Morgens, die üppigen Blumen und Pflanzen sind Sinnbilder für die Fröhlichkeit des frühen Lebens. Die engen Ufer und der begrenzte Umfang der Szene weisen auf die begrenzte Erfahrung der Kindheit und die Art ihrer Freuden und Wünsche hin. Der ägyptische Lotus im Vordergrund des Bildes ist ein Symbol für das menschliche Leben. Fröhlichkeit und Staunen sind die charakteristischen Gefühle der Kindheit.
ZWEITES BILD: JUGEND
Der Fluss folgt nun seinem Lauf durch eine Landschaft von größerer Weite und abwechslungsreicher Schönheit. Üppig wachsende Bäume überschatten seine Ufer, und grüne Hügel bilden die Basis für hohe Berge. Aus dem Kind von vorhin ist ein Jüngling geworden, der an der Schwelle zum Manne steht. Er ist nun allein im Boot, übernimmt selbst das Ruder und blickt in vertrauensvoller und erwartungsvoller Haltung auf einen wolkenverhangenen Haufen Architektur, ein Luftschloss, das sich Kuppel für Kuppel in den fernen blauen Himmel erhebt. Der Schutzengel steht am Ufer des Stroms und scheint dem ungestümen Reisenden mit ernster, aber gütiger Miene „Gott behüte“ zuzurufen. Der schöne Strom fließt eine Strecke lang direkt auf den Luftpalast zu, macht dann aber eine plötzliche Wendung und ist flüchtig unter den Bäumen zu sehen, bis er schließlich mit reißender Strömung in eine felsige Schlucht hinabfließt, wo der Reisende im nächsten Bild zu finden ist. Über den fernen Hügeln, die den Strom abzufangen und von seinem bisherigen Kurs abzubringen scheinen, ist ein Pfad zu erkennen, der direkt auf den wolkenverhangenen Stoff zusteuert, der das Ziel und der Wunsch des Reisenden ist.
Die Szenerie dieses Bildes – der klare Fluss, die hohen Bäume, die hoch aufragenden Berge, die grenzenlose Weite und die transparente Atmosphäre – verkörpern die romantische Schönheit jugendlicher Phantasien, wenn der Geist das Niedrige und Gewöhnliche zum Großartigen vergrößert, bevor die Erfahrung lehrt, was das Reale ist. Der prächtige Wolkenpalast, dessen prächtigste Kuppeln sich dem Auge nur halb offenbaren und mit jedem Blick höher und höher werden, ist ein Sinnbild für die Tagträume der Jugend, für ihr Streben nach Ruhm und Ehre. Und der nur schemenhaft erkennbare Weg deutet darauf hin, dass die Jugend in ihrer ungestümen Entwicklung vergisst, dass sie sich auf dem Strom des Lebens befindet und dass sein Fluss mit unwiderstehlicher Kraft dahinfließt und mit zunehmender Schnelligkeit dem großen Ozean der Ewigkeit entgegeneilt.
DRITTES BILD: MANNESALTER
Sturm und Wolken umhüllen eine zerklüftete und trostlose Landschaft. Kahle, drohende Abgründe erheben sich im gleißenden Licht. Der angeschwollene Strom stürzt wütend eine dunkle Schlucht hinunter, wirbelt und schäumt in seinem wilden Lauf und rast auf den Ozean zu, der durch den Nebel und den fallenden Regen nur schemenhaft zu erkennen ist. Das Boot ist da und taucht in die stürmischen Gewässer ein. Der Reisende ist jetzt ein Mann mittleren Alters: Das Ruder des Bootes ist weg, und er blickt flehend zum Himmel, als ob nur die Hilfe des Himmels ihn vor den Gefahren, die ihn umgeben, retten könnte. Der Schutzengel sitzt ruhig in den Wolken und beobachtet den verängstigten Reisenden mit einem Hauch von Besorgnis. Dämonische Gestalten schweben durch die Luft. Der Ärger ist charakteristisch für die Zeit des Mannesalters. In der Kindheit gibt es keine nagende Sorge, in der Jugend keine verzweifelten Gedanken. Erst wenn die Erfahrung uns die Realitäten der Welt gelehrt hat, heben wir den goldenen Schleier des frühen Lebens von unseren Augen und empfinden tiefen und anhaltenden Kummer. Und in dem Bild sind der düstere, verfinsterte Ton, die widerstreitenden Elemente, die vom Sturm zerrissenen Bäume die Allegorie; und der Ozean, der nur schemenhaft zu erkennen ist, stellt das Ende des Lebens dar, dem sich der Reisende nun nähert. Die dämonischen Gestalten sind Selbstmord, Zügellosigkeit und Mord, also die Versuchungen, die den Menschen in seiner größten Not heimsuchen. Der nach oben gerichtete flehende Blick des Reisenden zeigt seine Abhängigkeit von einer höheren Macht, und dieser Glaube rettet ihn vor der Zerstörung, die unvermeidlich scheint.
VIERTES BILD: DAS ALTER
Düstere Wolken hängen über einem weiten, mitternächtlichen Ozean. Einige karge Felsen sind in der Finsternis zu erkennen –
die letzten Ufer der Welt. Sie bilden die Mündung des Flusses, und man sieht das von Stürmen zerrüttete Boot, dessen Figuren der Stunden zerbrochen sind und herabhängen, über tiefe Gewässer gleiten. Geleitet vom Schutzengel, der ihn bisher unbemerkt begleitet hat, blickt der Reisende, der nun ein alter Mann ist, zu einer Öffnung in den Wolken empor, aus der ein herrliches Licht hervorbricht. Man sieht Engel die Wolkenstufen hinabsteigen, als wollten sie ihn im Hafen des unsterblichen Lebens willkommen heißen. Der Strom hat nun den Ozean erreicht, zu dem alles Leben hinstrebt. Die Welt ist für das hohe Alter nicht mehr von Interesse. Es gibt kein Grün mehr auf ihr. Die zerbrochenen und herabhängenden Figuren des Bootes zeigen, dass die Zeit fast zu Ende ist. Die Fesseln der körperlichen Existenz fallen ab, und schon hat der Geist einen flüchtigen Blick auf das unsterbliche Leben. Das engelhafte Wesen, dessen Anwesenheit dem Reisenden bisher nicht bewusst war, offenbart sich ihm und zeigt seinem staunenden Blick mit freudestrahlendem Antlitz Szenen, wie sie das Auge des Sterblichen noch nie gesehen hat.
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