Rechtsexperte: „Die Probleme, die mit dem Hirntodkonzept verbunden sind, werden verschwiegen“

Vor der Sommerpause passierte ein Gesetzentwurf zur Organspendereform den Bundesrat. Welche Konsequenzen ein solches Gesetz mit sich bringt und warum eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hirntodkonzept jetzt das A und O ist, erklärte der Richter Rainer Beckmann im Interview mit Epoch Times.
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Kommt ein Intensivpatient als Organspender in Frage, hat das weitreichende Konsequenzen (Symbolbild).Foto: gorodenkoff/iStock
Von 24. Juli 2024

Der Bundesrat hat einen Gesetzentwurf zur Organspendereform vorgelegt. Demnach würden alle Menschen zu potenziellen Organspendern werden – es sei denn, sie legen Widerspruch ein. Epoch Times sprach mit dem Richter und Medizinrechtsexperten Rainer Beckmann aus Würzburg über rechtliche und medizinethische Aspekte. Während des Gesprächs wurde schnell klar, dass eine fundierte Entscheidung zur Organspende ohne eine Auseinandersetzung mit der Hirntodregelung nicht möglich ist.

Herr Beckmann, Sie beschäftigen sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Organspende. Wie bewerten Sie den Ansatz der geplanten Widerspruchsregelung, wonach alle Menschen per Gesetz potenzielle Organspender werden sollen?

Aus meiner Sicht gibt es drei Gründe gegen die Widerspruchsregelung: 1. Menschen mit dem sogenannten Hirntodsyndrom sind nicht wirklich tot. 2. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht objektiv und ergebnisoffen über den Zustand Hirntod und seine Problematik aufgeklärt. 3. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung ist gar nicht in der Lage, entsprechend aufgeklärt zu werden.

Können Sie das näher erklären?

In Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) fühlen sich 36 Prozent der Bürger „weniger gut“ und neun Prozent sogar „schlecht“ informiert. Wenn die Menschen die Situation gar nicht wirklich gut einschätzen können, kann man von ihnen auch keine Entscheidung verlangen. Noch weniger kann man ihnen unterstellen, wie es die Widerspruchsregelung tut, dass sie ohnehin bereit wären, einer Organentnahme zuzustimmen.

Aber der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Bürger informiert werden sollen; alle über 14 Jahre werden dreimal angeschrieben und mit Informationen versorgt. Reicht das nicht aus?

Diese Informationen werden voraussichtlich nicht besser sein als das, was bisher schon an Aufklärungsarbeit geleistet wird. Bereits jetzt steht im Gesetz, dass umfassend und ergebnisoffen informiert werden muss. Aber die Realität sieht anders aus. In den Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wird ohne weitere Begründung vom Hirntodkonzept ausgegangen. Alles, was gegen dieses Konzept sprechen könnte – und da gibt es viele Einwände –, wird überhaupt nicht erwähnt.

Durch die Widerspruchsregelung wird der Bevölkerung eine Entscheidungspflicht auferlegt. Wer sich nicht entscheidet, wird als Organspender behandelt. Wenn man das nicht will, muss man sich für oder gegen eine Organentnahme entscheiden. Die Alternative, keine Entscheidung zu treffen, wird den Bürgern genommen. Wenn man sich aber entscheiden muss, dann trägt der Staat die Verantwortung dafür, dass alle, die sich entscheiden sollen, auch umfassend informiert sind. Das ist gegenwärtig nicht so. Durch die aktuellen Aufklärungsmaßnahmen werden die Bürgerinnen und Bürger im Sinn des Hirntodkonzepts manipuliert.

Das ist eine heftige Kritik an der BZgA. Lassen Sie uns die Sache anhand eines Beispiels betrachten. Uns liegt eine BZgA-Broschüre („Der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod)“) vor, darin heißt es: „Immer wieder wird in der Laienpresse von Fällen berichtet, bei denen ein angeblich hirntoter Mensch wieder zurück ins Leben gekommen sei.“ In solchen Fällen sei davon auszugehen, dass die Hirntoddiagnostik entweder gar nicht oder nicht sachgerecht durchgeführt wurde. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Meldungen über falsche Hirntodfälle, die es tatsächlich gibt, sind kein Beweis dafür, dass das Hirntodkonzept richtig ist. Das Hauptproblem des Hirntods besteht darin, dass es keine Begründung gibt, warum allein schon der Funktionsausfall des Gehirns sicher den Tod des Menschen anzeigen soll. Hierfür gibt es weder in den Aufklärungsmaterialien der BZgA noch in den Richtlinien der Bundesärztekammer eine Begründung.

Das Aufklärungsproblem ist wirklich von zentraler Bedeutung. Die Probleme, die mit dem Hirntodkonzept verbunden sind, werden verschwiegen. Aus meiner Sicht sind daher die allermeisten Erklärungen zur Organspende unwirksam und unverbindlich, weil sie nicht auf einer ausreichenden Informationsgrundlage getroffen worden sind.

Außerdem werden bei der Hirntoddiagnostik auch Fehler gemacht, wie ein Fall aus Bremerhaven im Jahr 2014 zeigt. Da wurde angeblich bei einer Patientin der Hirntod festgestellt, obwohl bei dem Apnoe-Test [Prüfung der Spontanatmung] der erforderliche Wert von 60 nicht erreicht wurde. Als die Bauchdecke bereits geöffnet worden war, bemerkte jemand den Fehler, sodass die Organentnahme abgeblasen wurde. Das Pikante an diesem Fall war, dass während der Überprüfung einer der Beteiligten den erreichten Wert von 58 durchgestrichen und „60“ darübergeschrieben hat. [Anm. d. Red.: Die Patientin verstarb, als die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt wurden, die für die Organentnahme notwendig waren.]

In § 3 Absatz 1 TPG heißt es, dass Organe- und Gewebeentnahmen nur zulässig sind, wenn der Tod des Spenders nach den Regeln festgestellt wird, „die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“. Wer bestimmt, welche Erkenntnisse hier zugrunde gelegt werden?

De facto die Bundesärztekammer. Sie ist nach § 16 TPG dazu berechtigt und verpflichtet. Aber in ihren Richtlinien gibt es keine Erklärung, warum der Hirntod den Tod des Menschen beweisen soll. Das wird einfach so – ohne weitere Begründung – behauptet. Das widerspricht dem Gesetz, weil es dort ausdrücklich heißt, dass die Richtlinien zu begründen sind und die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nachvollziehbar dargelegt werden müssen. Genau das ist nicht der Fall.

Der irreversible Hirnfunktionsausfall bedeutet vor allem, dass ein Mensch unumkehrbar sein Bewusstsein verloren hat. Aber Bewusstsein ist nicht mit „Leben“ identisch. Das Leben des Menschen findet nicht nur im Gehirn statt. Ein potenzieller Spender könnte auch sagen: „Solange der Körper noch funktioniert, bin ich nicht vollständig tot und dann möchte ich auch keine Organe spenden.“ Aber die körperliche Lebendigkeit der Patienten mit Hirnfunktionsausfall wird von der Bundesärztekammer nicht beachtet.

Hirntote haben nach wie vor einen lebendigen Organismus wie andere Intensivpatienten auch. Sie können Sauerstoff aufnehmen und Nahrung verwerten. Ihre Wunden heilen, das Immunsystem funktioniert – der gesamte körperliche Funktionsablauf des Organismus ist noch aktiv. Und trotzdem behauptet die Bundesärztekammer, der Tod ist schon sicher eingetreten. Das ist nicht glaubwürdig.

Tod oder Hirntod? – da stellt sich die Frage: Wann gilt ein Mensch rechtlich als tot?

Es gibt kein Gesetz in Deutschland, in dem steht, wann ein Mensch tot ist. Das Transplantationsgesetz (TPG) enthält in § 3 eine sehr merkwürdige Regelung. Ein Organspender muss tot sein (Abs. 2 S. 1 Nr. 2); und mindestens muss er auch hirntot sein (Abs. 2 Nr. 2). Der Hirntod ist nur eine Mindestvoraussetzung für eine Organentnahme. Wirklich zulässig ist sie nur, wenn auch der Tod eingetreten ist. In der Praxis wird so getan, als seien Tod und Hirntod identisch. Das steht aber nicht im Gesetz. Von zahlreichen Juristen wird diese Regelung auch als irritierend, eigenartig und unklar kritisiert.

So wie in dem Fall, in dem eine für hirntot erklärte Schwangere noch ihr Kind ausgetragen hat?

Davon gibt es international mindestens 30 Fälle. In Deutschland war dies zum Beispiel im Jahr 2018 der Fall. Diese schwangere, angeblich tote Frau hat fünf Monate lang ein Kind ausgetragen, das gesund geboren wurde. Es ist geradezu absurd anzunehmen, dass Leichen Kinder gebären können. Schon allein deshalb kann der Hirntod kein sicheres Todeszeichen sein.

Lebenserhaltende Maßnahmen wie Beatmung führen letztlich dazu, dass der natürliche Sterbeprozess angehalten wird wie bei dieser Schwangeren. Nur wenn man die intensivmedizinischen Unterstützungsmaßnahmen einstellt, tritt der Tod ein.

Wenn es im Gesetz den Unterschied zwischen Tod und Hirntod gibt, können dann Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, auch lebenswichtige Organe spenden?

Im Prinzip ja, allerdings führt jede Form des Durchblutungsstillstands zu einer Verschlechterung der Organqualität. Je länger man wartet, desto schlechter sind die Aussichten, dass eine Organtransplantation erfolgreich durchgeführt werden kann. Deshalb ist die Transplantationsmedizin daran interessiert, die frischesten Organe zu bekommen. Aber ausgeschlossen wären Organentnahmen nach dem Kreislaufstillstand nicht. Vor allem Nieren, die am häufigsten transplantierten Organe, sind noch längere Zeit nach Ende der Durchblutung transplantabel, aber eben mit schlechterem Ergebnis.

Bei den Hornhäuten der Augen, der Haut, den Blutgefäßen, den Knochen und Ähnlichem gibt es dieses zeitliche Problem nicht. Solche Gewebe kann man auch noch entnehmen, wenn die Menschen ganz traditionell verstorben sind.

Lassen Sie uns auf die Widerspruchsregelung zurückkommen. Laut dem neuen Gesetzentwurf des Bundesrates sollen schon 14-Jährige eine Willenserklärung zur Organspende im Register abgeben, ändern oder widerrufen können – ohne die Einwilligung der Eltern. Was sagen Sie dazu?

Ich hoffe, dass dieses Gesetz nicht zustande kommt. Wenn schon Erwachsene sich schlecht informiert und überfordert fühlen, dann wäre es absurd, schon Jugendlichen eine bindende Entscheidung zuzubilligen – zumal in der Schule praktisch nur die Materialien der BZgA verbreitet werden.

Es ist eine klare Überforderung gerade junger Menschen, dass sie eine Entscheidung treffen sollen zu einer Situation, die medizinisch und rechtlich hochkomplex und sehr selten ist. Eine Hirntoddiagnostik wird nur bei ungefähr 0,15 Prozent aller Todesfälle gemacht. Der Durchschnittsbürger hat damit nie irgendetwas zu tun.

Es gibt im Gesetzentwurf eine Klausel, die Leute schützen soll, die nicht entscheidungsfähig waren. Darunter fallen beispielsweise Analphabeten und Menschen mit geistiger Behinderung, aber sicher auch ein Großteil junger Menschen. Ob und wie das in der Praxis funktioniert, ist sehr fraglich. Vielleicht könnten sich Eltern – wenn sie die Entscheidung ihrer Kinder zur Organspende nicht akzeptieren – darauf berufen, dass ihr Kind aufgrund der fehlenden umfassenden Aufklärung nicht in der Lage war, eine informierte und wirklich selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.

Was raten Sie unseren Lesern – unabhängig davon, ob sie sich schon als Organspender haben registrieren lassen, dies ablehnen oder noch in der Überlegungsphase sind?

Wer sich mit dem Thema Organspende beschäftigt, sollte sich unabhängige Informationen beschaffen, und zwar auch solche, die sich kritisch mit dem Hirntod auseinandersetzen. Da gibt es Gruppierungen, wie beispielsweise die Initiative Kritische Aufklärung über Organtransplantation. Ich selbst habe zuletzt auch ein paar Artikel zu dem Thema geschrieben.

Der Gesetzentwurf wird mit einem Mangel an Spenderorganen begründet. Sehen Sie irgendeinen anderen Ansatz, wie man Betroffenen helfen kann, die auf ein Spenderorgan warten?

Es gibt leider keine Patentlösung für jeden Fall, aber verschiedene Ansatzpunkte. In erster Linie müssen wir zukünftig auf Prävention setzen. Viele Organschäden beruhen auf langjährigem Fehlverhalten der Betroffenen. Da ist noch viel zu tun. Für alle, die jetzt ein Organ benötigen, ist es natürlich zu spät für eine präventive Verhaltensänderung.

Wenn nur eine bestimmte Anzahl von Organen freiwillig zur Verfügung gestellt werden, dann wird man sich damit abfinden müssen. Es gibt keinen Anspruch auf die Organe anderer Menschen. Nur die Organe können verteilt werden, die auf rechtlich und ethisch einwandfreie Art und Weise zur Verfügung gestellt werden. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass der sogenannte Organbedarf jemals vollständig gedeckt werden könnte.

In manchen Fällen besteht die Möglichkeit der Lebendspende wie bei Nieren, die Verwandten entnommen werden, und es gibt Organersatzverfahren. Entscheidend ist für mich immer, dass die potenziellen Spender wahrheitsgemäß aufgeklärt werden.

Auch in anderen Ländern gilt die Widerspruchsregelung. Wie ist das einzuordnen?

Auch dort werden die Leute nicht wirklich über die Voraussetzungen aufgeklärt. Das Hirntodkonzept wird von praktisch allen Ärzteverbänden propagiert, obwohl es einer kritischen Prüfung nicht standhält. Auch die Spender in anderen Ländern werden nicht objektiv und umfassend über die Probleme des Hirntodkonzepts informiert.

Es gibt in vielen Ländern auch die Organentnahme nach Herzstillstand („Non heart-beating donor“-System). Bei dieser Vorgehensweise ist man nach meiner Überzeugung ebenfalls nicht irreversibel tot, aber es wird immerhin der Herzstillstand abgewartet und man entnimmt erst dann die Organe. Die Ergebnisse sind für die Organempfänger qualitativ mit denen nach Eintritt des Hirntods vergleichbar. Organe, die aus diesem System kommen, werden aber von Deutschland nicht akzeptiert, weil dieses Verfahren in Deutschland nicht zugelassen ist. Wenn im Ausland unter zweifelhaften Umständen Organe entnommen werden, dürfen wir dies nicht akzeptieren.

Aus China ist bekannt, dass mit Organen im großen Stil gehandelt wird und der Transplantationstourismus aufblüht. Sollte man solche Reisen unterbinden?

Es ist meines Erachtens klar, dass Deutschland jedenfalls Organe von zum Tode Verurteilten aus China oder solche, die aus Organhandel stammen, nie akzeptieren würde.

Mit einem gewissen „Transplantationstourismus“ wird man leben müssen. Wenn manches in Deutschland aus rechtlichen oder ethischen Gründen nicht gemacht wird, kann man trotzdem in ein Land fahren, wo das geht. Es ist schwer, das vollständig zu unterbinden. Die Lösung kann aber keinesfalls darin bestehen, alles, was in anderen Ländern möglich ist, auch hier zu erlauben. Das würde zu einem Wettlauf um die niedrigsten ethischen Standards führen.

Vielen Dank für das Interview.

Das Interview wurde geführt von Susanne Ausic.

*Rainer Beckmann ist neben seiner Richtertätigkeit stellvertretender Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. Köln, Dozent an der Juliusspital Palliativakademie Würzburg und Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.



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