Unerklärliches Phänomen: Rückkehr der geistigen Schärfe bei Demenzkranken kurz vor ihrem Tod

Das Phänomen ist nicht neu, stellt die Forscher aber noch immer vor ein Rätsel: Episoden von geistiger Klarheit bei Demenzkranken oder Personen mit Hirnerkrankungen kurz vor ihrem Tod.
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Terminale Luzidität kommt am häufigsten bei Demenzpatienten kurz vor ihrem Tod vor. Sie haben eine kurze Phase der Klarheit, in der sie „zurück ins Leben“ kommen.Foto: Ridofranz/iStock
Von 26. Juni 2024

Die Fallstudie von Anna Katherina Ehmer ist eine der berühmtesten Studien über terminale Luzidität. Das ist ein Phänomen, das die Forscher noch immer vor Rätsel stellt. Dabei erleben Personen mit schweren psychischen oder neurologischen Erkrankungen kurz vor ihrem Tod einen Moment der geistigen Klarheit.

Ehmer, genannt Käthe, erblickte 1895 in Deutschland schwer behindert das Licht der Welt. Im Alter von sechs Jahren kam sie in eine psychiatrische Anstalt im heutigen Schwalmstadt-Treysa in Nordhessen. Dort sollte sie bis zu ihrem Tod im Alter von 26 Jahren bleiben.

Laut Dr. Friedrich Happich, damaliger Leiter der Einrichtung, gehörte Ehmer zu den am schwersten geistig behinderten Patienten in der Geschichte der Anstalt. Sie hatte nie gelernt zu reden. Außerdem konnte sie stundenlang auf eine bestimmte Stelle starren und dann mehrere Stunden ohne Pause herumzappeln.

„Sie verschlang ihr Essen, beschmutzte sich Tag und Nacht, gab tierähnliche Laute von sich und schlief. In der ganzen Zeit, in der sie bei uns lebte, haben wir nie gesehen, dass sie ihre Umgebung auch nur eine Sekunde lang wahrgenommen hätte“, berichtete Happich.

Sie zog sich mehrmals eine Hirnhautentzündung zu. Die Ärzte nahmen an, dass sie „einen großen Teil des Hirngewebes zerstörte, das für intelligentes Denken erforderlich ist“. Ferner litt sie an Tuberkulose, die zur Amputation ihres Beins und schließlich zu ihrem Tod führte.

Todesgesang

Doch als sie im Sterben lag, geschah etwas Unerwartetes. Sie begann zu singen. Eine halbe Stunde lang vor ihrem Tod sang sie – klar und in perfektem Deutsch – eine Trauerhymne.

Dr. Happich beschrieb die folgende Szene am Sterbebett von Kathe: „Eines Tages rief mich einer unserer Ärzte, der sowohl als Wissenschaftler als auch als Psychiater geachtet ist. Er sagte: ‚Kommen Sie sofort zu Käthe, sie liegt im Sterben!‘ 

Als wir gemeinsam das Zimmer betraten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht. Käthe, die nie ein einziges Wort gesprochen hatte, da sie von Geburt an geistig völlig behindert war, sang sich Sterbelieder vor. Vor allem sang sie immer wieder ‚Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh‘? Ruh‘, Ruh‘, himmlische Ruh’!’ Eine halbe Stunde lang sang sie. Ihr bis dahin so verdummtes Gesicht verklärte und vergeistigte sich. Dann entschlief sie leise. Wie ich und die Krankenschwester, die sie gepflegt hatte, hatte auch der Arzt Tränen in den Augen.“

Ein rätselhaftes Phänomen

Terminale Luzidität kommt am häufigsten bei Demenzpatienten kurz vor ihrem Tod vor. Sie haben eine kurze Phase der Klarheit, in der sie „zurück ins Leben“ kommen. Dabei erlangen sie die Eigenschaften wieder, die sie zu dem machen, was sie sind – oder vor dem Ausbruch der Krankheit waren.

Zu dieser Klarheit kann die Fähigkeit gehören, Erinnerungen abzurufen, die durch eine Krankheit, die das Gehirn langsam zerstört, verloren geglaubt wurden. Außerdem können sie kommunizieren – eine Fähigkeit, die vielleicht schon vor langer Zeit als Folge der Krankheit verschwunden war.

Das Phänomen tritt nicht nur bei Demenzkranken auf, sondern auch bei Patienten mit anderen Erkrankungen wie beispielsweise 

  • schweren psychiatrischen Erkrankungen, 
  • Hirnstörungen, 
  • Tumoren, 
  • Hirnhautentzündungen, 
  • Hirnabszessen (abgekapselte Entzündung des Gehirns), 
  • Schlaganfällen, 
  • Hirnverletzungen
  • sowie bei Komapatienten, die kurz vor dem Tod aufwachen.

Im Jahr 2009 definierte der deutsche Biologe Michael Nahm in einem Beitrag im „Journal of Near-Death Studies“ den Begriff der terminalen Luzidität wie folgt: „Das (Wieder-)Auftauchen normaler oder ungewöhnlich gesteigerter geistiger Fähigkeiten bei geistig eingeschränkten, bewusstlosen oder psychisch kranken Patienten kurz vor dem Tod. Dazu gehören auch eine erhebliche Stimmungsaufhellung und die Fähigkeit, in einer zuvor ungewöhnlich spirituellen oder erhebenden Weise zu sprechen.“

Paradoxe Luzidität ist ein weiter Begriff, der sich auf dasselbe Phänomen bezieht. Dabei erlebt der Patient eine plötzliche Rückkehr zu geistiger Klarheit und der Fähigkeit zu sprechen und sich zu erinnern. Das Phänomen kann jederzeit auftreten, nicht nur vor dem Tod.

Stressig und verwirrend für Angehörige

Für diejenigen, die diese Episoden der Klarheit miterleben, können sie entweder eine positive oder eine belastende Erfahrung sein – manchmal sogar beides. In einer Studie aus dem Jahr 2022 sollten Betreuungspersonen ihre Erfahrungen mit diesen Episoden bei Patienten mit Alzheimer und verwandten Demenzkrankheiten im Spätstadium bewerten. 72 Prozent sahen sie als „ziemlich oder sehr positiv“, 17 Prozent als belastend und zehn Prozent als eine Kombination aus beidem.

Terminale Luzidität kann für manche Angehörigen stressig und verwirrend sein. Denn sie halten dies für ein Zeichen dafür, dass sich ihr geliebter Mensch erholt. Um dieser neuen Situation Rechnung zu tragen, fordern sie eine Änderung der Pflege. Dies führt zu erheblichem emotionalem Chaos bei Verwandten, Freunden und dem Personal, das den Patienten betreut.

Heilsame Art des Abschieds

Deswegen sollte man die Angehörigen über das Phänomen aufklären, empfehlen Yen Ying Lim und Diny Thomson von der australischen Monash University in einem Artikel. „Wenn die Angehörigen wissen, dass terminale Luzidität ein Teil des Sterbeprozesses ist, können sie anerkennen, dass sich der Demenzkranke nicht mehr erholen wird. Sie können die Zeit, die sie mit dem luziden Menschen verbringen, optimal nutzen“, schrieben die Professorin am Turner Institute for Brain and Mental Health und die Doktorandin in klinischer Neuropsychologie und ausgebildete Psychologin ohne Approbation im Mai 2024. 

Für die Wissenschaftler ist dieses Phänomen eine Gelegenheit, das Verständnis über das Gehirn neu zu bewerten. Ferner können sie die Auffassung hinterfragen, ob die kognitiven Verluste, die für Alzheimer und andere Demenzerkrankungen charakteristisch sind, wirklich unvermeidlich und unumkehrbar seien.

Für die Familienmitglieder können diese kurzen Episoden der Klarheit ein wunderbares Geschenk sein. Sie ermöglichen dem Kranken, sich zu verabschieden. Auch kann er wieder Kontakt zu seiner Familie und seinen Freunden aufnehmen, seine letzten Wünsche mitteilen sowie um Vergebung bitten oder selbst vergeben. Für Angehörige von Patienten mit schwerer Demenz, die vielleicht viele Jahre lang keine Kommunikation mit ihnen hatten, kann dies eine sehr heilsame Erfahrung und eine schöne Art des Abschieds sein.

Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Bei Gesundheitsfragen wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker.

Zuerst erschienen auf theepochtimes.com unter dem Titel „Terminal Lucidity: Many Patients Experience an Unexplained Return of Mental Acuity in Their Final Days“. (redaktionelle Bearbeitung as)



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