Wer war Fritz Kittel?
Warum hilft jemand? Mit dieser grundlegenden Frage initiierte Schriftstellerin Esther Dischereit die Wanderausstellung „Wer war Fritz Kittel? Ein Reichsbahnarbeiter entscheidet sich – zwei Familien 1933-2022“.
Fritz Kittel war es, der 1944 Dischereits Mutter Hella Zacharias mit ihrer Tochter Hannelore in Sorau, dem heutigen Zary in Polen, in seinem Haus versteckte und sie so davor bewahrte, in nationalsozialistische Todeslager deportiert zu werden. Als 1945 die russische Rote Armee anrückte, gab er sie als seine Familie aus. Er überzeugte sie mitzukommen nach Osthessen in den kleinen Ort Heringen (Werra), wohin er versetzt worden war.
Was „untergetaucht-sein“ bedeutet
Kaleidoskopartig setzen sich in der Ausstellung Puzzlestücke zusammen. Es wächst der Respekt vor dem Mut und der Entschlossenheit dieser Frau, die es wagt, einen anderen Weg zu gehen.
1941 taucht Hella Zacharias mit ihrer damals fünfjährigen Tochter Hannelore in Berlin unter. Sie sind jüdisch. Das allein ist Grund genug für die Nationalsozialisten, sie mit dem Tod zu bedrohen.
Esther Dischereit legt Schicht um Schicht die Dokumente und Erinnerungen frei – in ihrer eigenen behutsamen, aufmerksamen Art. Beeindruckend, wie dadurch die Situation untergetauchter Menschen plastisch wird.
Chana Freundlich, Enkelin von Hella Zacharias und Tochter Esther Dischereits, fragt sich in einer der kurzen dokumentarischen Filmaufnahmen, wie dieses „Untergetaucht-sein“ konkret ausgesehen haben mag: ohne eine Möglichkeit, sich zu waschen, nur unterwegs in öffentlichen Verkehrsmitteln, mit oder ohne Fahrschein.
Chana Freundlich weiter: „Sie sind so viel von Ort zu Ort gereist, weil sie auch überall denunziert wurden, und sobald sie denunziert wurden, sind sie in den Zug gestiegen und waren weg. Bis sie wahrscheinlich Fritz Kittel getroffen haben und dann länger an einem Ort sein konnten.“
„Ein herzensguter Mensch“
Was mag der Beweggrund für Fritz Kittel gewesen sein – mit dem Einverständnis seiner Verlobten –, Frau Zacharias in seinem Keller „verschwinden“ zu lassen? Woher nahm er den Mut, das Kind Hannelore, inzwischen im schulpflichtigen Alter, als seine Nichte auszugeben? Sie einzuschulen und sogar sonntags in die Kirche mitzunehmen, um so normal wie möglich zu wirken?
Hannelore Zacharias erinnert sich in einer der filmischen Aufzeichnungen, wie ihr das sonntägliche Zusammenkommen mit vielen Kindern gut gefallen habe. Ein Stück Unbeschwertheit in einer pervertierten Welt.
Und dann 1945, wie sie mit der Mutter aus dem Bunker für die Dorfbevölkerung von Heringen herauskommt und den Amerikanern entgegenläuft. Endlich können Sie wieder ihre wahre Identität zu erkennen geben.
In den Fragebögen, die jeder Deutsche der amerikanischen Besatzungszone ausfüllen musste, ist zu lesen, dass Fritz Kittel keiner der nationalsozialistischen Organisationen angehörte. Er war aber auch nicht anderweitig politisch aktiv oder aus einem christlichen Hintergrund motiviert. Im Ersten Weltkrieg wurde er mit dem Ehrenkreuz der Frontkämpfer ausgezeichnet. Als Bahnarbeiter war er für die Ladung und Entladung der Waggons am Bahnhof Sorau in der Niederlausitz zuständig.
Rolle der Reichsbahn
Die Geschichte der Bahn ist eng mit der Deportation jüdischer Menschen und anderer unter dem NS-Regime unerwünschter Menschen in die Arbeits- und Todeslager verbunden. Ohne Bahnlogistik wäre der deutsche Holocaust nicht möglich gewesen.
Für jeden deportierten Menschen stellte die Reichsbahn einen ermäßigten Tarif für Sonderzüge in Rechnung – ein beträchtlicher Verdienst. Die Deutsche Bahn als Nachfolgerin der Reichsbahn rang sich durch, sich mit diesem Kapitel ihrer Vergangenheit zu beschäftigen.
So unterstützt die historische Sammlung der Deutschen Bahn – das unternehmenshistorische Archiv-Gedächtnis der Bahn – die Idee Dischereits, die Suche nach dem Retter ihrer Mutter und Schwester zu dokumentieren. Dabei nimmt Esther Dischereit auch die Mittäterschaft anderer Reichsbahnarbeiter und vor allem der Leitung unter die Lupe.
Zusammen mit der Gestalterin und Professorin für Typografie, Veruschka Götz, entwickelte Dischereit daraus die auf mehreren Ebenen ansprechende Ausstellung. Zwischen mächtigen Lokomotiven, die auch die Güterwaggons in die Todeslager zogen, war in der ersten Station – dem Technikmuseum Berlin – Platz für die Ausstellung.
Aus überdimensionalen Kommoden, die wie massive Holzblöcke wirken, lassen sich Schubladen ziehen, die viel Inhalt bergen. Zehn Filme des Dokumentarfilmers Gerhard Schick – alle durchschnittlich drei bis vier Minuten lang – sowie eine große, leuchtende Zeittafel komplementieren die Annäherung an Fritz Kittel und Hella Zacharias mit ihrer Tochter Hannelore.
Gemeinsame Geschichte
Nach Kriegsende reißt der Kontakt zwischen Herrn Kittel und Frau Zacharias, in zweiter Ehe Frau Dischereit, ab. Als 2019 Tochter Esther Dischereit die Nachkommen von Fritz Kittel ausfindig macht, haben weder seine Tochter Ernestine Dickhaut noch Enkel Peter Kittel je von den mutigen Hilfsmaßnahmen des Vaters und Großvaters gehört.
„Die Familie des Retters und die Familie der Geretteten reisen nach Polen, um ihre gemeinsame Geschichte zu ergründen“, heißt es im Trailer zur Ausstellung. Durch Fotos und Dokumente beider Familien versuchen sie, die Mosaiksteine der Vergangenheit zu einem Bild zusammenzusetzen.
Die drei massiven Holzblöcke der Ausstellung sind aufgeteilt auf Hella und Hannelore Zacharias, Fritz Kittel und die Bahn. In den großen ausziehbaren Laden finden sich Objekte, Fotos, Briefe und vor allem Dokumente. Auch solche, die belegen, wie andere Reichsbahnarbeiter tatkräftig an der Deportation mitwirkten – etwa durch Denunzierung ihrer Kollegen.
Zwischen den vergilbten, schreibmaschinen- und handgeschriebenen Schriftstücken finden sich Texte von Esther Dischereit. Schlaglichtartig beleuchten sie die Suche nach dem vergangenen Geschehen im Dschungel der Erzählungen und Erinnerungen; auch welch emotionale Belastung das Erinnern für die direkt Betroffenen bedeutet.
Die Idee, die literarischen Texte Dischereits als Besucher Blatt für Blatt zusammenzuheften und anschließend als dünne Mappe mitnehmen zu können, ist großartig und dient der Erinnerungskultur. Bei jedem Lesen erschließen sich neue Zusammenhänge.
„Eigentlich nie“
„Wahrscheinlich können wir uns nicht vorstellen, dass Fritz Kittel allein handelte, ohne sich einem Kreis oder einer Gruppe angeschlossen zu haben“, heißt es in Text Nr. 08.
Und Text Nr. 5 beginnt mit dem Satz: „Ich ging zum Landesarchiv Berlin.“ Und endet mit den Worten: „Er schaute in einem dicken Buch nach. Sie sind hier aufgelistet: im Buch der Juden aus Berlin. ‚Sie sind tot‘. Ich sagte: ‚ Nein, sie sind nicht tot. Ich kann es bezeugen.‘ Der Archivar sagte, dann könne er diese Namen aus dem Buch der ermordeten Berliner Juden streichen. Ich sagte ja. Er sagte: Wann habe ich das schon einmal in den letzten Jahrzehnten tun können. Eigentlich nie. Er holte einen Stift.“
Die Ausstellung ist bis 15. Oktober im Jüdischen Museum Frankfurt am Main, Battonnstraße 47, zu sehen. Anschließend ab Mitte Oktober im DB Museum Nürnberg.
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