Was man über den Nürnberger Kodex wissen sollte
Entstanden ist der Nürnberger Kodex im Rahmen der „Nürnberger Prozesse“. Diese fanden von 1945 bis 1949 in Nürnberg statt und begannen als Internationales Militärtribunal. Nach der Verurteilung der prominentesten Nazi-Größen im Oktober 1946 folgten zwölf weitere Prozesse, die jedoch nicht mehr vor einem alliierten Militärgericht angeklagt und verhandelt wurden, sondern unter Verantwortung der US-amerikanischen Streitkräfte.
Der „Ärzteprozess“ war der erste dieser zwölf Folgeprozesse und fand vom Dezember 1946 bis zum August 1948 statt. Im Rahmen der Urteilsverkündung wurde am 19. August der seither unter dem Namen „Nürnberger Kodex“ bekannte Grundsatztext über „zulässige medizinische Experimente“ verkündet, an dem mit Werner Leibbrand auch ein renommierter Medizinethiker aus Deutschland (Erlangen) mitwirkte.
Nürnberger Kodex bezieht sich nicht nur auf Nazi-Verbrechen
Im Ärzteprozess ging es vor allem um die Frage, ob und inwieweit sich die Experimente, für deren Durchführung die angeklagten Vertreter des Nazi-Regimes vor Gericht gestellt wurden, wesentlich von Versuchen unterschieden, die zuvor in Deutschland und Amerika durchgeführt worden waren. Die Anklage beauftragte daraufhin mehrere Sachverständige mit der Ausarbeitung entsprechender Prinzipien, die schließlich vom Gericht in das Verfahren mit aufgenommen und von Richter Harold Sebring am 19. August 1947 verlesen wurden.
Für eine Einordnung des Nürnberger Kodex ist es wesentlich, zu verstehen, dass der Kodex als solcher gerade kein Kodex ist, der ausschließlich Nazi-Verbrechen oder Versuche, welche in äußerlich erkennbarer Grausamkeit in Lagern stattfinden, verbietet.
Der Nürnberger Kodex, darauf wies seinerzeit bereits Werner Leibbrand in seiner Aussage vor dem Gericht hin, erweitert das auch heute wieder auf die hippokratische Ethik ausgerichtete und damit von einem hierarchischen Gefälle zwischen (wissendem) Arzt und (unkundigem) Patienten geprägte Verhältnis.
Der Nürnberger Kodex bringt in dieses Verhältnis die Dimension universeller und unveräußerlicher Menschenrechte ein.
Patienten sind keine Objekte
Leibbrand kritisierte, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein biologistisches Denken in der Medizin einsetzte, das den Patienten zu einem Objekt degradierte, „welches aus nichts als einer Reihe biologischer Reaktionen“ bestehe. Leibbrand bezeichnete diese positivistisch-wissenschaftliche Haltung als unmoralisch, weil sie die Achtung vor dem Leben vermissen lasse. Er kritisierte auch die Verletzung der menschlichen Würde, die später im Grundgesetz als unantastbares Menschenrecht verankert wurde.
Bereits 1898 hatte der sogenannte Neisser-Skandal um den Breslauer Medizinprofessor Albert Neisser hohe Wellen geschlagen und im Kaiserreich zum Erlass einer Verordnung über die Durchführung von Experimenten geführt, welche immerhin die Zustimmung der Versuchsperson voraussetzte. Diese Verordnung und eine weitere aus der Weimarer Republik von 1931, an deren Zustandekommen der später in Theresienstadt ermordete jüdische Arzt und Politiker Julius Moses mitgewirkt hatte, wurden durch den Nürnberger Kodex präzisiert und unauslöschlich in das öffentliche Bewusstsein geschrieben.
In dieser Hinsicht ist neben der Kodifizierung der informierten Zustimmung der Versuchspersonen im vollen Bewusstsein aller potenziellen Risiken und die Freiwilligkeit ohne jede Form von Zwang oder Lockung eine weitere epochale Weiterentwicklung im Nürnberger Kodex verankert:
Es ist seither die Pflicht und persönliche Verantwortung einer jeden an der Anordnung oder Ausführung beteiligten Person, sicherzustellen, dass die Information die notwendigen qualitativen Anforderungen erfüllt. Das bedeutet, eine Verantwortung, dass alle relevanten Informationen mitgeteilt und auch verstanden werden, kann nicht delegiert oder gesetzlich aufgehoben werden. Jede Person, die an einem Versuch durch Anordnung, Vorbereitung oder Durchführung mitwirkt, ist verantwortlich für das, was im Rahmen dieses Versuches geschieht.
Die Verantwortung von Ärzten
Werner Leibbrand, ein Gegner der Nazis, der sich während der Nazizeit mit seiner jüdischen Frau zunächst nach Nürnberg zwangsversetzen lassen und schließlich untertauchen musste, trat auch dem heute häufig geäußerten Gedanken einer Pflicht des Individuums zur Unterordnung unter das allgemeine oder das Wohl des Staates entgegen. Auf Rechtfertigungen, wonach bestimmte Versuche notwendig seien, um das „Staatswohl“ zu bewahren, welches über dem Wohl des Individuums rangiere, antwortete Leibbrand ausweislich des Verhandlungsprotokolls vom 27. Januar 1947: Auch wenn der Staat solche tödlichen Versuche an Menschen anordnen mag, bleibe es doch die Verantwortung eines jeden Arztes, solche Befehle zu missachten.
Die Bedeutung des Nürnberger Kodex geht also weit über den unbestreitbar erschreckend grausamen Kontext der NS-Medizin hinaus. Der Kodex mahnt Ärzte und bestärkt das Individuum in seinen unveräußerlichen Rechten. Eine Verhöhnung von Opfern ist gerade dann nicht zu erkennen, wenn es darum geht, die Lehre aus dem Schrecken zu ziehen. Insofern ist der Nürnberger Kodex für alle Menschen Richtschnur und Hilfe gleichermaßen.
Gleichzeitig mahnt der Nürnberger Kodex auch, seine Vorgeschichte zu studieren. Dazu zählen die intensiven, aber bisher kaum beleuchteten Verbindungen der Eugeniker in Deutschland und insbesondere Amerika, aber auch in Großbritannien. Die Eugenik war jene pseudowissenschaftliche Ideologie, auf der viele Experimente des Auschwitzer KZ-Arztes Josef Mengele fußten. Mengele wurde in Nürnberg in Abwesenheit verurteilt.
Und nach der Nazizeit?
Mengele war Schüler Otmar von Verschuers, einem Eugeniker, der 1946 von der CIA-Vorläufer-Organisation OSS unter Allen Welsh Dulles im Rahmen der Operation Paperclip in die USA geholt worden war. Operation Paperclip diente dem Wissenstransfer beziehungsweise im Falle der Eugeniker der Wissensbewahrung im Einflussbereich der USA. Mengele verfasste minutiöse Berichte über seine Versuche und sendete sie unter anderem an seinen akademischen Lehrer Verschuer, damals Professor in Berlin und Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts, welches mit Mitteln der pro-eugenischen Rockefeller-Stiftung zu Beginn der Nazizeit zum internationalen Zentrum der Eugenik und Rassenforschung ausgebaut worden war.
Verschuer wurde als „Mitläufer“ entnazifiziert und akademisch rehabilitiert. Mengele konnte aus Auschwitz entkommen und starb in Freiheit. Über die Taten Mengeles wusste Verschuer intensiv Bescheid, aber er log in eidesstattlichen Erklärungen über seinen Musterschüler: „Von seiner Arbeit ist nur bekannt geworden, dass er sich bemüht hat, den Kranken ein Arzt und Helfer zu sein.“
Otmar von Verschuer war Mitgründer der Mainzer Akademie der Wissenschaften und zeitweilig Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Münster. Er war also auch nach der Nazizeit etabliert im medizinischen Establishment des Westens, das heute noch mehr als damals von industriellen Interessen abhängig ist. Grund genug, an die universelle Bedeutung des Nürnberger Kodex zu erinnern, den kein Grundsatzwerk einer ärztlichen Gesellschaft ersetzen kann.
Freie informierte Zustimmung ist ein Menschenrecht, nicht nur, aber auch in medizinischen Experimenten.
Über den Autor:
Dr. Uwe Alschner, Jahrgang 1965, ist promovierter Historiker und Absolvent des Concours der Europäischen Kommission. Nach Stationen im Auswärtigen Amt und in Stäben von Politik und Wirtschaft in Bonn, Hannover, Hamburg und Berlin arbeitet Uwe Alschner seit 2020 als Publizist. Er ist Herausgeber des Blogs alschner-klartext.de und Co-Moderator einer regelmäßigen Radiosendung.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 58, vom 20. August 2022.
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