„Pauschale Einordnung als kriminell nicht haltbar“: Studie warnt vor Stigmatisierung arabischer Großfamilien
Welchen Beitrag leisten ungeschriebene Gesetze und das Eigenleben arabischer Großfamilien zu kriminellen Akten von Angehörigen – und inwieweit tragen Stigmatisierung und Vorverurteilungen dazu bei? Dieser Frage ist der Kriminologe Robert Pelzer von der Technischen Universität (TU) Berlin nachgegangen.
Im Vorjahr ist seine Untersuchung mit dem Titel „Biografien und Lebenswelten von Angehörigen großfamiliärer Strukturen“ erschienen. Auf der Grundlage der Arbeit ist eine Broschüre zustande gekommen, die auf 140 Seiten deren Ergebnisse zusammenfasst. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte das Projekt, für das drei Jahre lang geforscht wurde, mit 660.000 Euro gefördert.
Studie unter Einbeziehung von Angehörigen der Großfamilien
Pelzer kommt aufgrund der von ihm zusammengetragenen Erkenntnisse zu der Einschätzung, dass das Phänomen krimineller Strukturen und Karrieren mit „Clan“-Bezug komplexer sei, als es Medien, breite Öffentlichkeit und oft auch die Polizei betrachteten. Die Forschung beruhte den Angaben der Verfasser zufolge nicht nur auf externem Quellenmaterial. Es habe vielmehr auch mit Personen Gespräche gegeben, die an die Großfamilien-Strukturen angebunden sind.
Mit Namen wie Remmo, Abou-Chaker, Miri oder Al-Zein werden in der breiten Öffentlichkeit regelmäßig Kriminalität und Abschottung in Verbindung gebracht. Der Umstand, dass tatsächlich regelmäßig Personen aus den entsprechenden Großfamilien in strafbare Handlungen verwickelt sind, trägt nicht allein dazu bei.
Die Assoziation arabischer Großfamilien mit kriminellen Parallelstrukturen hat auch mit dem Grad der Aufmerksamkeit zu tun, die strafbaren Handlungen aus diesem Milieu entgegengebracht wird. Häufig sind es auch besonders spektakuläre Taten durch Personenzusammenhänge aus den Clan-Strukturen, die diese noch verstärken. So konnten der Diebstahl aus dem Grünen Gewölbe in Dresden und die Entwendung einer wertvollen Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum mit den Großfamilien in Verbindung gebracht werden.
Kriminologe Pelzer warnt vor Folgen einer Stigmatisierung
Allerdings macht die Kriminalität, die Strukturen aus dem Milieu der sogenannten Clans zugerechnet werden kann, selbst in deren Hochburgen nur einen kleinen Teil des Gesamtgeschehens aus. In Berlin waren es zuletzt etwa 0,17 Prozent aller Straftaten, in NRW 0,48 und in Niedersachsen 0,76 Prozent. Eine niedrige zweistellige Zahl an Ermittlungsverfahren mit Clan-Bezug stehe im Kontext mit Organisierter Kriminalität.
Im Gespräch mit dem „Focus“ hat Kriminologe Pelzer vor den Folgen einer pauschalen Stigmatisierung von Angehörigen der betreffenden Großfamilien gewarnt. Schlagworte wie „kriminelle Clans“ zu verwenden, stellt nach seiner Überzeugung sogar einen Akt des „Alltagsrassismus“ dar. Immerhin werde Menschen damit allein aufgrund ihres Namens eine Nähe zur Kriminalität unterstellt:
„Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass diesen Familiennamen oder ‚Clans‘ jeweils mehrere hundert oder tausend Menschen zugerechnet werden können. Sie haben zwar denselben Nachnamen, viele Angehörige kennen sich aber nicht und haben im Alltag gar nichts miteinander zu tun.“
Es sei im Zuge seiner Forschungen sehr deutlich geworden, so Pelzer, dass „die medial suggerierte Vorstellung von Angehörigen arabischsprachiger Großfamilien als pauschal kriminelle und gewaltbereite Personen nicht haltbar ist“. Dort, wo kriminelle Karrieren stattfänden, unterschieden sich diese nicht wesentlich von jenen deutschstämmiger Straftäter.
Das „bayt“ hat mehr mit familienbasierter Kriminalität zu tun als die Großfamilie
Bereits vor dem Forschungsteam um Robert Pelzer hatte sich Dr. Mahmoud Jaraba von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Phänomen arabischer oder türkischer Großfamilien befasst. Er machte 2023 deutlich, dass familienbasierte Kriminalität in jenem Milieu eine Angelegenheit von „bayt“-Strukturen innerhalb der Großfamilien sei. Eine zentrale Führung innerhalb der sogenannten Clans gebe es nicht.
Der Begriff „bayt“ lässt sich im Sinne von „Haus“ oder „Gemeinschaft“ verstehen. Es handelt sich im Kontext der Großfamilien um gut vernetzte, transnationale Strukturen, die sich selbst ein gemeinsames Ziel gesetzt haben. In einigen Fällen könne dies auch der Zuwachs von Reichtum und Einfluss sein, für den auch kriminelles Handeln in Kauf genommen werde.
Diese Substrukturen seien so effizient organisiert, dass sie Personen, die durch Gefängnisstrafen wegfielen, schnell ersetzen könnten. Gleichzeitig seien die Zusammenschlüsse in der Lage, ein soziales Auffangnetz für Familienmitglieder zu bieten, die auf regulärem Wege keine Perspektive fänden. Selbst innerhalb eines „bayt“ seien jedoch nicht alle Mitglieder zwangsläufig kriminell, betont Jaraba.
Unsicherer Aufenthaltsstatus: Ein Hindernis für Integration
Dass dies vielfach der Fall sei, sei jedoch auch eine Folge gesellschaftlicher Stigmatisierung und Vorverurteilung, sind Pelzer und Jaraba sich einig. Namensträgern der entsprechenden Großfamilien seien übliche Bildungswege und Karrieren häufig verbaut. Es seien Fälle bekannt, in denen bereits an Kindergärten oder Schulen eine Ausgrenzung sogenannter Clan-Kinder stattgefunden habe.
Auch im Verhältnis zur Polizei sei das Tragen eines Namens der Großfamilien ein sicherer Weg, willkürlich kontrolliert, schnell verdächtigt und hart angefasst zu werden. Gleichzeitig bemerkten viele Betroffene auch, dass sich der eigene Name gegenüber anderen als Druckmittel und zur Einschüchterung benutzen lasse.
Im Ergebnis kommen beide zu dem Schluss, dass kriminelle Strukturen innerhalb der Großfamilien eine enorme Herausforderung für den Rechtsstaat darstellten. Allerdings seien die allgegenwärtige Stigmatisierung und eine pauschale Abstempelung von Namensträgern selbst Teil des Problems. Sie trügen eher zur Stabilisierung krimineller Substrukturen als zu deren Austrocknung bei.
Ghadban: „Kriminelle Clans“ als Begriff unangemessen – „Clankriminalität“ jedoch real
Eines der Haupthindernisse bei der Zurückdrängung krimineller Elemente innerhalb der Großfamilien sei der unsichere Aufenthaltsstatus, so Pelzer. Viele Mitglieder der Großfamilien seien in Deutschland lediglich geduldet, bis zu 30 Prozent von ihnen hätten keinen festen Aufenthaltstitel.
Gründe dafür reichten von fehlenden Passdokumenten oder Geburtsurkunden über instabile finanzielle Verhältnisse bis hin zu fehlenden Sprachkenntnissen oder Vorstrafen. In Deutschland geborene Kinder geduldeter Angehöriger der Großfamilien erhielten nicht automatisch einen Aufenthaltsstatus. Die Summe negativer Erfahrungen bedinge eine dann erst recht stattfindende Abschottung.
Kritik an den Aussagen der Forscher übt der Autor und Mitbegründer der „Libanonhilfe“ Ralph Ghadban. Zwar lehnt auch er Begriffe wie „kriminelle Clans“ ab, er betonte jedoch, dass der größte Teil der Mitglieder der Großfamilien einen Aufenthaltstitel und 60 Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft hätten.
Es sei falsch, mit Blick auf die langjährige Präsenz der Betroffenen im Land und des Zugangs zu staatlichen Transferleistungen von „traumatischen Fluchterfahrungen“ und „prekärer Situation“ zu sprechen. Diese seien jedoch in Pelzers Arbeit angeklungen. Das Phänomen der „Clankriminalität“ sei ein reales, äußert Ghadban. Der Begriff sei lediglich eine wertfreie Beschreibung einer „Kriminalität, die auf der Basis der Verwandtschaft organisiert ist“. Dies sei ein Merkmal, das nicht zwingend die übliche organisierte Kriminalität kennzeichne.
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