Muslime zwischen den Fronten: Unterschiedliche Wahrnehmungen des Nahostkonflikts

Der Terror der Hamas in Israel belastet auch in Deutschland das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen. Unterschiedliche Narrative zum Nahostkonflikt drohen, zum Vorwand für eine neue Welle der Islamfeindlichkeit zu werden. Eine Analyse.
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Ist der Terror der Hamas Wasser auf die Mühlen von Islamfeinden? Und woher kommen die unterschiedlichen Wahrnehmungen in der muslimischen Community zum Nahostkonflikt?Foto: David Silverman/Getty Images
Von 11. Oktober 2023

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Sympathiebekundungen pro-palästinensischer Gruppen für den Terror der Hamas in Berlin-Neukölln und als „relativierend“ kritisierte Stellungnahmen von Islamverbänden drohen eine neue Islam-Debatte in Deutschland anzustoßen. Eine Seite fordert Loyalität deutscher Muslime zur Israel-Solidarität als Teil deutscher Staatsräson ein. Die andere reagiert mit Unverständnis und sieht sich bevormundet.

Unterschiedliche Wahrnehmungen des Nahost-Konflikts

Tatsächlich ist die Wahrnehmung des Nahost-Konflikts in weiten Teilen der muslimischen Community auch insgesamt eine deutlich andere als in weiten Teilen der deutschen Politik. Dies beginnt bereits bei der Solidarität mit Israel als Teil der deutschen Staatsräson, die vor allem in Zeiten terroristischer Angriffe beschworen wird.

Die meisten Muslime in Deutschland sind Einwanderer, die seit Beginn der 1960er-Jahre ins Land gekommen waren, und deren Nachfahren. Sie betrachten diesen Teil der deutschen Staatsräson als Konsequenz aus dem Holocaust. Dieser ist aus ihrer Sicht aber in erster Linie ein Menschheitsverbrechen, das Europäer im Allgemeinen und Deutsche im Besonderen verursacht hätten. Deshalb betreffe – so die Einschätzung vieler muslimischer Einwanderer – die daraus erwachsene Verantwortung gegenüber Israel auch in erster Linie die „Alteingesessenen“.

Dazu kommen Narrative historischer, religiöser und nationaler Art, die dazu führen, dass viele Muslime einen Unterschied machen zwischen ihrer Position zum Judentum und jener zu Israel als Staat. Zahlreiche Positionen in diesem Bereich sind Ausdruck weitverbreiteter, propagandistischer Verschwörungserzählungen. Einige davon sind unverkennbar antisemitisch – wie etwa Darstellungen von Israel als „Kindermörder“ oder die Behauptung, das Land wolle gegen die Al-Aksa-Moschee vorgehen.

Das Kolonialismus-Narrativ und seine Widersprüche

Einige andere sind hingegen komplexer und sind auch der europäischen Linken oder äußersten Rechten nicht fremd. In Teilen der muslimischen Community reiht sich die Position zu Israel etwa ein in die Kolonialismus-Debatte. Die Entstehung des Staates Israel auf dem Boden des „Britischen Mandatsgebiets Palästina“ und der UN-Teilungsplan werden als kolonialistischer Akt Englands und Frankreichs wahrgenommen. Viele Muslime stehen auf dem Standpunkt, dass arabische Bewohner des Mandatsgebiets mit der Gründung des jüdischen Staates die Zeche für europäische Verbrechen bezahlen würden.

Sachlich ist diese Position in vielerlei Hinsicht angreifbar. Bereits im 16. Jahrhundert hatte der Berater am Osmanischen Hof Joseph Nasi den Sultanen Süleyman I. und Selim II. eine Ansiedlung der in weiten Teilen Europas verfolgten Juden in deren ursprünglichen Siedlungsgebieten vorgeschlagen.

Die Sultane standen der Idee grundsätzlich positiv gegenüber. Eine Verwirklichung unterblieb vor allem, weil der Krieg mit der Republik Venedig und der „Heiligen Liga“ diese unmöglich machte. In jener Zeit, in der die alten Siedlungsgebiete der jüdischen Stämme unter der Herrschaft der Osmanen standen, existierten durchgehend jüdische Gemeinschaften.

Araber bekämpften Osmanisches Reich – um unter europäischer Herrschaft zu landen

Das Kolonialismus-Narrativ leidet zudem an dem Umstand, dass es arabische Aufständische selbst waren, die sich zum Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich aufstacheln ließen. Der bekannteste Akteur in diesem Zusammenhang war der britische Offizier T. E. Lawrence („Lawrence von Arabien“).

Die Aufstände endeten damit, dass die von den arabischen Freischärlern beanspruchten Gebiete zwar von der Hohen Pforte frei wurden, allerdings unter den Einfluss von Engländern und Franzosen fielen.

Die jüdische Einwanderung in die betreffenden Gebiete im Zeichen des Zionismus hatte demgegenüber bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Die Ansiedlung jüdischer Gemeinschaften war auch nicht mit Eroberungsfeldzügen oder den Kolonialmächten verbunden, sondern in aller Regel mit einem legalen Erwerb von Grundstücken durch private Vereinigungen.

Frantzman: Israel weder „weiß“ noch „westlich“ noch „Kolonialstaat“

Die Gründung und die Existenz Israels in den Kontext eines Kolonialismus-Narrativs zu stellen, war auch ein wesentlicher Teil der sowjetischen Propaganda in der Zeit des Kalten Krieges. Die Sowjets selbst sahen den jüdischen Staat seiner engen Beziehungen zu den USA wegen als Vorposten des Westens im Nahen Osten.

Diese Wahrnehmung des jüdischen Staates als vermeintlichen Fremdkörper in einem – dem Narrativ zufolge – homogen arabisch-muslimischen Gebiet verband die Muslimbrüder und die Sowjets im „Antizionismus“. Heute setzt sich dieses Zweckbündnis fort, wenn sogenannte Islamisten und „woke“ Linke gleichermaßen Israel als Akteur „weißer“ Landnahme darstellen.

Tatsächlich stellen die Nachkommen von Juden mit Europa-Bezug in Israel spätestens heute eine Minderheit dar. Mittlerweile blickt der Großteil der jüdischen Einwohner Israels auf eine Familiengeschichte in osteuropäischen, afrikanischen, zentralasiatischen oder Staaten des Nahen Ostens zurück. Seth J. Frantzman betonte 2017 in der „Jerusalem Post“, dass die kulturellen Einflüsse in Israel zu vielschichtig wären, um das Land als „westlich“ einzuordnen.

Die jüdische Geschichte und damit verbundene Präsenz jüdischer Gemeinschaften auf allen Erdteilen hatten zudem zur Folge, dass Juden unterschiedlichste Hautfarben aufweisen können. Auch das widerspricht dem Narrativ von Israel als „weißem“ Kolonialstaat. Dazu kommt, dass im jüdischen Staat Angehörige anderer Religionen uneingeschränkte Freiheiten genießen – von Drusen über Christen und Ba’hai bis hin zu den arabischen Muslimen. Diese stellen 20 Prozent der Bevölkerung. Umfragen zufolge bevorzugt eine klare Mehrheit von ihnen ein Leben in Israel, einem Leben unter der Herrschaft einer der Palästinenserorganisationen.

Allerdings stellt die „Palästinenser“-Debatte für viele Muslime auch eine Projektionsfläche dar. Israel als „westlichen“ Staat einzuordnen, der gegen Muslime vorgehe, fügt sich in ein breiteres Geschichtsbild. In diesem spielen neben dem Kolonialismus auch noch westliche Kriege gegen mehrheitlich muslimische Staaten aus der jüngeren Zeit eine Rolle.

Deutsche Islam-Debatte als „Medizin“ gegen Schröder-Erbe?

Neben dem Kolonialismus-Diskurs ist es allerdings auch der Beigeschmack politisch-ideologischer Instrumentalisierung, der in muslimischen Gemeinschaften Reaktanz hervorruft. Noch in der Schröder-Ära und in der Zeit des „Sommermärchens“ galten die Beziehungen zwischen Mehrheitsbevölkerung und muslimischen Einwanderern als entspannt. Zur Fußball-WM 2006 waren zahlreiche türkische Lokale oder Läden in Berlin mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückt.

Gegen Ende der 2000er-Jahre nahm jedoch eine „Islam-Debatte“ in weiten Teilen der Medien einen wesentlichen Raum ein, die darauf ausgerichtet war, Muslime zu stigmatisieren und auszugrenzen. Unter dem Banner der „Islamkritik“ traten aggressive antimuslimische Blogs auf den Plan. Vor allem die Springer-Presse machte sich zum Multiplikator für Personen, die Kopftuchverbote forderten, religiöse Rechte einschränken oder Muslime Bekenntniszwängen unterwerfen wollten.

„Kronzeugen“ wie die Soziologin Necla Kelek oder der ägyptische Atheist Hamed Abdel-Samad waren Dauergäste in Talkshows. Politische Beobachter reihen Veranstaltungen wie den „Pro-westlichen Heimatabend“ auf dem Münchner Nockherberg im Sommer 2005 als einen der Auslöser der Entwicklung ein. Neokonservative und NATO-Befürworter sollen sich von einer aggressiv geführten Islamdebatte einen Bewusstseinswandel versprochen haben.

Die falschen Verteidiger des „Abendlandes“ angefüttert?

Der Islam und später Russland als Feindbilder sollten das Erbe der Schröder-Ära überwinden helfen. Der Altkanzler hatte den EU-Beitrittsprozess der Türkei durchgesetzt, ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz geschaffen und Russland als Partner betrachtet. An einer westlichen Hegemonialpolitik war das Interesse in der Bevölkerung am Ende seiner Amtszeit gering.

Die permanente Problematisierung der muslimischen Religion sowie des Alltags- und Familienlebens deutscher Muslime haben zu einer stärkeren Selbstabgrenzung geführt. Dies begünstigte die Verfestigung von konfrontativen Einstellungsmustern gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Nicht zuletzt der türkische Staat und türkisch-islamische Gemeinden nutzten das Mainstreaming von antimuslimischem Rassismus, um in der Einwanderercommunity die Identifikation mit der Herkunftskultur zu stärken.

Terrorakte wie jener des norwegischen Islamgegners Anders Breivik im Jahr 2011 oder Bewegungen wie „Pegida“ haben die Leitmedien vorsichtiger werden lassen. Die Bedenken, durch einen allzu konfrontativen Kurs gegen den Islam die Falschen zu stärken, ließen die Welle wieder abebben.

Israel für viele „Islamkritiker“ nur ein Vorwand

In der muslimischen Community herrscht aber nach wie vor vielfach der Eindruck vor, dass die Solidarität mit Israel bei vielen, die sie einfordern, nur ein Alibi für eigene Islamfeindlichkeit ist. In den späten 2000er Jahren haben zahlreiche rechte Parteien in Europa den traditionellen Antisemitismus in ihren eigenen Reihen bekämpft, indem sie den Islam als Ersatz-Feindbild anboten.

Aber auch in europäisch-jakobinischer Tradition stehende Feministinnen, Liberale oder areligiöse Konservative scheinen in Israel eher einen Vorwand zur Verfolgung anderweitiger Ziele sehen. So würden diese nicht nur Muslimen in europäischen Ländern Rechte vorenthalten, die Israel diesen bereitwillig gewährt.

Auch das jüdische Leben selbst scheint vielen Islamgegnern, die jetzt zur Israel-Solidarität mahnen, nicht unbedingt ein Herzensanliegen zu sein. Um Verbote wie jenes der Knabenbeschneidung, religiöser Schlachtungsvorschriften oder privater religiöser Schiedsgerichtsbarkeit gegen Muslime durchzusetzen, sollen nach deren Auffassung auch Juden freiwillig auf all dies verzichten.

Israel und der antizionistische Antisemitismus bleiben ein blinder Fleck in Teilen der islamischen Community. Der Art und Weise, wie Politik und Medien in Deutschland versuchen, dieser gegenzusteuern, scheint jedoch nur bedingt eine Eignung zum Erfolg innezuwohnen.



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