Einzelkindprivileg oder Geschwisterglück?

Forscher untersuchten Tausende Mädchen und Jungen aus China und den USA. Ein Grund könnte die geringere Aufmerksamkeit durch die Eltern sein.
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Symbolbild: Wirkt sich das Aufwachsen mit Geschwistern negativ auf die psychische Entwicklung von Kindern aus? Eine Studie aus den USA behauptet das.Foto: fotolia.com
Von 21. März 2024

Die überwiegende Zahl der Kinder in Deutschland wächst mit Geschwistern auf. Laut Statistischem Bundesamt (Destatits) lebten im Jahr 2021 von den insgesamt 13,6 Millionen Kindern unter 18 Jahren knapp 10,3 Millionen Kinder mit ihren Geschwistern im selben Haushalt.

Damit wuchsen mehr als drei Viertel der Mädchen und Jungen (75,4 Prozent) mit mindestens einem Bruder oder einer Schwester auf. Diese Zahl ist Destatis zufolge seit 2001 konstant. Der Anteil der Einzelkinder liegt demnach in den vergangenen rund 20 Jahren zwischen 24 und 25 Prozent.

Studienteilnehmer waren im Durchschnitt 14 Jahre alt

Seit 1997 wird alljährlich am 10. April weltweit der Tag der Geschwister begangen. Er geht zurück auf die Initiative der US-Amerikanerin Claudia A. Evart, die zwei Schwestern bei Autounfällen verloren hatte. Der Tag der Geschwister soll an die besondere und einzigartige Beziehung zwischen Brüdern und Schwestern erinnern, denn das geschwisterliche Band kann langlebiger und stärker sein als die Beziehung zu Freunden oder dem Partner.

Viele Sprüche belegen das enge Band zwischen Geschwistern. „Bei einem Brunnen leidest du nie Durst, bei einer Schwester verlierst du nie den Mut“, heißt es etwa bei den Chinesen. „Ein Mensch ohne Brüder und Schwestern gleicht einem Baum in der Wildnis“, sagt man in Vietnam.

Eine amerikanische Studie greift nun dieses seit Menschengedenken bestehende Gefüge an. Geschwister seien nicht gut für die psychische Gesundheit von Teenagern, behaupten Forscher der Ohio State University. Das Ergebnis stützt sich auf Untersuchungen mit mehr als 9.400 chinesischen Jugendlichen und knapp 9.200 amerikanischen Heranwachsenden. Alle Studienteilnehmer besuchten achte Schulklassen, waren im Durchschnitt also 14 Jahre alt.

Ohne Geschwister bei bester psychischer Gesundheit

Wie die Autoren der Studie erläutern, haben die chinesischen Jugendlichen im Schnitt etwa 0,7 Geschwister weniger als ihre amerikanischen Altersgenossen, die auf durchschnittlich 1,6 Geschwister kommen. Aufgrund der chinesischen Ein-Kind-Politik sei es zu erwarten gewesen, dass etwa ein Drittel (34 Prozent) der chinesischen Kinder Einzelkinder sind, verglichen mit nur 12,6 Prozent der amerikanischen Jungen und Mädchen.

In beiden Ländern stellten die Forscher den Schülern eine Vielzahl von Fragen zu ihrer psychischen Gesundheit, wobei sich die Fragen in China und den Vereinigten Staaten inhaltlich unterschieden. In dem asiatischen Land hätten die Teenager ohne Geschwister die beste psychische Gesundheit gezeigt. Den Jugendlichen in den USA sei es ohne oder mit nur einem Geschwisterkind ähnlich gegangen.

Fast gleich alte Geschwister mit den größten Problemen

Ältere Geschwister und Geschwister, die im Alter eng beieinanderlagen, hätten tendenziell „die schlimmsten Auswirkungen auf das Wohlbefinden“, heißt es in der Pressemitteilung der Universität. Um welche Erkrankungen es sich konkret handelt, wird allerdings nicht gesagt. Geschwister, die innerhalb eines Jahres geboren wurden, hätten demnach „die stärkste negative Assoziation mit der psychischen Gesundheit“.

Douglas Downey, Hauptautor der Studie, begründet dies mit einer „Ressourcenverwässerung“. Er sagt: „Wenn man sich elterliche Ressourcen wie einen Kuchen vorstellt, bedeutet ein Kind, dass es den ganzen Kuchen bekommt – die ganze Aufmerksamkeit und die Ressourcen der Eltern.“

Wenn aber Geschwister hinzukämen, bekomme jedes Kind weniger Aufmerksamkeit von den Eltern – und das könne sich auf die psychische Gesundheit der Kleinen auswirken. Die Tatsache, dass Geschwister in engem Abstand die negativsten Auswirkungen erführen, stütze diese Erklärung. „Kinder, die fast im gleichen Alter sind, werden um die gleichen Arten von elterlichen Ressourcen konkurrieren“, erläutert Downey.

Einzelkinder mit den größten sozioökonomischen Vorteilen

Eine andere Möglichkeit sei, das Ergebnis mit der Selektivität zu erklären. Die Unterschiede zwischen China und den USA lieferten eine gewisse Unterstützung für diese Erkenntnis. So hätten in beiden Ländern Kinder aus Familien mit dem größten sozioökonomischen Vorteil die beste psychische Gesundheit.

Das bedeutet: In China waren es Kinder in Ein-Kind-Familien, in den USA Kinder mit null oder nur einem Geschwisterkind. „Wenn man alle Beweise zusammenzählt, sind die Auswirkungen von Geschwistern auf die psychische Gesundheit eher negativ als positiv“, laut Downeys Fazit.

Dazu merkte er an, dass die Daten nichts über die Qualität der Geschwisterbeziehungen aussagten. Es sei wahrscheinlich, dass qualitativ hochwertigere Geschwisterbeziehungen für Kinder vorteilhafter seien und sich positiver auf die psychische Gesundheit auswirken könnten.

Andere Studien belegen Vorteile von Geschwistern

Während diese Studie einen negativen Einfluss von Geschwistern zeigt, hätten andere Untersuchungen gezeigt, dass mehr Geschwister mit besseren sozialen Fähigkeiten bei Kindergartenkindern und einer geringeren Scheidungswahrscheinlichkeit bei Erwachsenen verbunden sei. In einer Studie aus Schweden aus dem Jahr 2016 gab es ebenfalls keine Hinweise auf physische oder psychische Nachteile durch das Aufwachsen in einer großen Familie.

„Diese Kombination von Ergebnissen ist nicht einfach zu erklären. Wir müssen noch mehr über den Einfluss von Geschwistern lernen“, kommentierte Downey seine Erkenntnisse. „Dies ist jetzt besonders wichtig, da die USA und andere Länder niedrigere Geburtenraten haben. Zu verstehen, welche Folgen es hat, wenn man mit weniger oder gar keinen Brüdern und Schwestern aufwächst, ist ein immer wichtigeres gesellschaftliches Thema.“

Hauptautor Douglas Downey hatte sich schon vor fast 30 Jahren mit exakt jenem Thema befasst, in dem es nun um die Studie ging. In seinem 1995 erschienen Artikel „Wenn größer nicht besser ist: Familiengröße, Ressourcen und schulische Leistungen der Kinder“ führte er weitgehend dieselben Argumente an, die er nun zur Begründung des mangelnden seelischen Wohlbefindens von Kindern mit Geschwistern in seiner Studie aufführt.

2010 veröffentlichte er gemeinsam mit seiner Kollegin Donna Bobbitt-Zeher Untersuchungsergebnisse, denen zufolge das Vorhandensein von Geschwistern unerheblich für die kindliche Entwicklung ist. Beide lehrten damals an der Ohio State University, Downey war dort auch schon Mitte der 1990er-Jahre beschäftigt. In seinem Lebenslauf sind verschiedene Veröffentlichungen zum Geschwisterthema aufgeführt.



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