O lieb, solang du lieben kannst! – Von Ferdinand Freiligrath

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Und sprichst: O schau auf mich herab, der hier an deinem Grabe weint!Foto: iStock

O lieb, solang du lieben kannst!

O lieb, solang du lieben kannst!

O lieb, solang du lieben magst!

Die Stunde kommt, die Stunde kommt,

Wo du an Gräbern stehst und klagst!

Und sorge, daß dein Herze glüht

Und Liebe hegt und Liebe trägt,

Solang ihm noch ein ander Herz

In Liebe warm entgegenschlägt!

Und wer dir seine Brust erschließt,

O tu ihm, was du kannst, zulieb!

Und mach ihm jede Stunde froh,

Und mach ihm keine Stunde trüb!

Und hüte deine Zunge wohl,

Bald ist ein böses Wort gesagt!

O Gott, es war nicht bös gemeint, –

Der andre aber geht und klagt.

O lieb, solang du lieben kannst!

O lieb, solang du lieben magst!

Die Stunde kommt, die Stunde kommt,

Wo du an Gräbern stehst und klagst!

Dann kniest du nieder an der Gruft

Und birgst die Augen, trüb und naß,

– Sie sehn den andern nimmermehr –

Ins lange, feuchte Kirchhofsgras.

Und sprichst: O schau auf mich herab,

Der hier an deinem Grabe weint!

Vergib, daß ich gekränkt dich hab!

O Gott, es war nicht bös gemeint!

Er aber sieht und hört dich nicht,

Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;

Der Mund, der oft dich küßte, spricht

Nie wieder: Ich vergab dir längst!

Er tat’s, vergab dir lange schon,

Doch manche heiße Träne fiel

Um dich und um dein herbes Wort –

Doch still – er ruht, er ist am Ziel!

O lieb, solang du lieben kannst!

O lieb, solang du lieben magst!

Die Stunde kommt, die Stunde kommt,

Wo du an Gräbern stehst und klagst!

Ferdinand Freiligrath  (1810 – 1876) – Aus „Zwischen den Garben“, 1849



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