„Erkenne Dich selbst“ – Raffaels „Die Schule von Athen“

Eine Reise mit dem berühmten Renaissance-Meister durch die antike Philosophie.
Titelbild
Die Schule von Athen.Foto: public domain.
Von 3. Oktober 2022

„Niemals ist der Vorgang des Denkens erregender dargestellt, niemals der eingeborene Drang des menschlichen Wesens nach dem Begreifen seiner selbst und des Kosmos leidenschaftlicher kundgetan worden“ als in der Schule von Athen. Perfekter als Reinhard Raffalt in seiner Sinfonia Vaticana kann man es nicht zusammenfassen. Die großartige „Schule von Athen“ des berühmten Florentiners und Renaissance-Meisters Raffael lädt uns zu einer Reise durch die antike Philosophie ein … und zur Selbstfindung des menschlichen Geistes.

Die Hallen der Papstwohnungen

Wir befinden uns in den Papstsälen, den „Stanzen“ im Vatikan, genauer in der Renaissancewohnung von Papst Julius II. (1443-1513). Die Fresken an den vier Wänden der „Stanza della Segnatura“ (Saal der Unterschrift) schuf der Maler Raffael Sanzio zwischen 1508 und 1511 und entsprechen den Beständen der dort aufgestellten Buchregale: die vier großen Bereiche der Literatur. Eine breite Wand ist der Philosophie gewidmet, das darstellende Fresko wurde von Vasari als „Die Schule von Athen“ betitelt (Raffael selbst gab keinen Titel an).

Auf diesem Fresko ist eine große Anzahl Männer zu sehen, gekleidet in antike Roben in einem marmornen Gewölbe. Auf zwei Etagen verteilt stehen sie in Gruppen, überdacht von einem Rundbogengewölbe innerhalb einer Struktur mit massiven Säulen, die nach hinten den Blick in einen blauen Himmel freilässt. Zwei große steinerne Statuen links und rechts erinnern an Apollon und Hera (Athene). Die Männer tragen Gewänder in leuchtenden Farben, manche bemützt und jeglichen Alters, die sich in losen Gruppen zusammengefunden haben.

Den Mittelpunkt des Freskos der Philosophenschule bilden die zwei größten Gelehrten der Antike: Platon und Aristoteles. Links in rotem Gewand Platon, mit der Hand nach oben zum ewigen Reich der Ideen weisend. Rechts neben ihm vorwiegend blau gewandet Aristoteles, der mit seiner Hand Richtung Erde zeigt, als Erinnerung an die Stofflichkeit dieser Welt und die empirischen Wissenschaften. Der Idealist und der Realist. Platons Züge erinnern an Leonardo Da Vinci, Raffaels Hommage an den wohl bedeutendsten Platoniker seiner Zeit. In der Hand hält Platon den Timaeus, in dem seine Ideenlehre dargelegt wird, Aristoteles hingegen die Nikomachische Ethik, die Sittenlehre.

Stars und Sternchen der Philosophie

Um die beiden zentralen Gestalten sammeln sich zahlreiche Philosophen. Auf Platons Seite besonders hervorstechend in Grün ist Sokrates, der an seinen Händen die Argumente gegen die Sophisten aufzählt. Die Sophisten sind ganz links angesiedelt und werden mit einer abweisenden Handbewegung fortgeschickt. Die Schriftrollen in ihren Händen erinnern daran, dass die Sophisten sich für Reden engagieren ließen – gekaufte Rhetorik sozusagen. Heute würde man es Lobbyismus nennen. Unterhalb der Sophisten steht eine Gestalt mit blauer Toga und einem Lorbeerkranz auf dem Haupt an einer Säule lehnend: Orpheus. Orpheus liest in einem Buch, wohl die Sammlung seiner orphischen Schriften. Auf der unteren Terrasse in weiß Pythagoras, der auf der Tafel zu seinen Füßen die musikalische Harmonielehre mit Ton, Diatessaron, Diapente und Diapason demonstriert. Über seine Schulter blicken die arabischen Gelehrten – erkennbar am Turban –, die seine mathematischen Lehren verinnerlichen.

An Aristoteles Seite stehen weiter rechts zwei Jünglinge, der linke von ihnen auf einem Sims kauernd und hektisch Notizen niederkritzelnd, der andere ruhig erklärend – gemeinsam bilden sie die personifizierte Lernmethode der disputatio, also des Streitgesprächs. Die geistige Bewegtheit versinnbildlichen die vom Wind durchwühlten Haare des linken Scholaren. Auf der unteren Terrasse arbeitet Euklid vornübergebeugt mit einem Zirkel auf einer Tafel. Hinter ihm in ein goldenes Gewand gehüllt und vom Betrachter weggedreht der griechische Astronom und Geograf Ptolemäus, mit dem Weltglobus in der Hand und in Weiß hinter ihm Zarathustra, der die Himmelkarte der Fixsterne auf einem weiteren Globus hält. Zusammen verkörpern sie die „alte Kosmologie“ mit der Erde als Mittelpunkt des Kosmos und der Schöpfung. Als kleine Selbstverewigung ganz rechts, mit einer schwarzen Künstlermütze steht Raffael selbst, – schüchtern dem Betrachter zugewandt. Dass Künstler Teil ihrer eigenen Komposition wurden, ist in der Renaissance nichts Ungewöhnliches, Raffael schloss sich dieser Tradition an.

Heraklit später hinzugefügt

Etwas aus dem Konzept fällt Heraklit, der zentral links unten auf einem Marmortisch seinen Arm aufstützend in Gedanken versunken scheint. Seine Positionierung und der Stil, mit dem ihn Raffael dargestellt hat, stechen hervor. Ursprünglich war Heraklit gar nicht geplant, jedenfalls nicht in dieser Positionierung – das belegen Untersuchungen der unterliegenden Entwurfszeichnung. Heraklit wurde später von Raffael hinzugefügt, nachdem der Florentiner Künstler die Sixtinische Kapelle gesehen hatte, an der Michelangelo etwa zur gleichen Zeit arbeitete. Heraklits Gesicht trägt die Züge Michelangelos selbst und Raffael hat ihn in seinem eigenen Stil gemalt.

Die Gesichter vieler Zeitgenossen Raffaels haben es in die „Schule“ geschafft: Leonardo Da Vinci wurde bereits erwähnt. Doch auch Donato Bramante, erster Architekt des Petersdoms und Verwandter von Raffael, ist abgebildet, und zwar als Euklid. Neben Raffael in Weiß steht Sodoma, der die Decke in den Stanzen mitdekoriert hat. Homer trägt die Züge von Tommaso (oder Fedra) Inghirami, Präfekt der Vatikanbibliothek Julius‘ II. Inghirami, wenn auch uns unbekannt, spielte eine zentrale Rolle in Raffaels Karriere, denn er half ihm, das gesamte Projekt der „Stanzen“ auszuarbeiten, war sein Mentor und Beirat. Das Gewölbe ist Bramantes ursprünglicher Entwurf des Petersdoms in der Form eines griechischen Kreuzes, der so nie fertiggestellt wurde.

Der Drang nach Erkenntnis

Die „Schule von Athen“ fasst die antike Weisheit der Akademie in den Künsten zusammen. Sinnbildlich steht sie für den Erkenntnisdrang des Menschen überhaupt. Märchen, Mythen und Gedichte machen mit Orpheus den Anfang (der über der Eingangstür der Stanza thront). Durch die oberflächlichen und aufgesetzten Argumente der Sophisten hindurchnavigiert der Wahrheitssucher auf Sokrates zu, dessen Weisheit sich durch seine Erkenntnis auszeichnet, nichts zu wissen.

Dann findet der Suchende die Großen der Philosophie, Platon und Aristoteles. Die ewige Wahrheit in den Ideen nun erkennend, steigt er hinab in das Reich der Naturwissenschaft, um den Kosmos zu erkunden und die Natur zu bändigen. Euklid, Pythagoras und andere sind ihm dazu seine Ratgeber. In seiner Erforschung entdeckt der Wahrheitssucher Harmonie, Schönheit und Ausgewogenheit in der Wirklichkeit, nicht zuletzt in der Musik, die ihn wiederum zur Kontemplation der höchsten Ideen anregt. Und auch eine gesunde Portion Skepsis darf nicht fehlen: Diogenes von Sinope sitzt halb nackt, isoliert und ein wenig verträumt auf der Treppe. Ermöglicht werden ihm seine Erkenntnisse durch die Vernunft, die wie ein Gewölbe alle Ideen und Gedanken in sich generiert und behält. Doch ein „Fenster“ zur Transzendenz bleibt immer geöffnet, wenn auch nur im Hintergrund.



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