„Die Gleichung ihres Lebens“

Wenn Herz und Verstand sich die Hand reichen, wird die Unendlichkeit des Universums nicht mehr zur Bedrohung. So könnte der Ende Juni in deutschen Kinos anlaufende Film über eine junge Mathematikerin zusammengefasst werden. 2023 lief er auf dem Filmfestival in Cannes in der Rubrik Special Screening.
Titelbild
Marguerite präsentiert ihre Forschungsergebnisse.Foto: TS Productions, Michaël Crotto
Von 18. Juni 2024

Die Geschichte des Films „Die Gleichung ihres Lebens“ ist nicht eine, die mit überraschenden Wendungen aufwartet. Sie ist sogar in weiten Strecken vorhersehbar. Doch das Erfüllende ist das Wie. Wie Marguerite Hoffmann, die 25-jährige Mathematikerin und Protagonistin, ein Stück weit dem Geheimnis des Lebens näher kommt.

Wir lernen sie als Doktorandin an der renommierten Hochschule École normale supérieure (ENS) in Paris kennen. Dabei wird schnell klar, dass sie sich nur auf eines im Leben konzentriert: die Mathematik. Alles andere hat sich diesem Ziel unterzuordnen und wird sehr pragmatisch behandelt. Sie braucht bequemes Schuhwerk, also trägt sie in der Hochschule Hausschuhe.

Kein Funktionieren um jeden Preis

Die Aufgabe, die sie sich gestellt hat, ist dabei eher der Griff nach den Sternen: Sie möchte die Goldbachsche Vermutung beweisen, die besagt, dass jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, die Summe zweier Primzahlen sei. Eine Theorie, an der sich Zahlentheoretiker seit ihrer Formulierung 1742 die Zähne ausbeißen, ohne diese belegen zu können.

Als ihr ein Fehler bei der Präsentation ihrer Forschungsarbeit nachgewiesen wird, verliert sie nicht nur ihren Doktorvater, sondern auch das Vertrauen in die akademische Welt und in ihre Fähigkeiten. In einer Kurzschlussreaktion kündigt sie, auch wenn das die Rückzahlung des bisher erhaltenen Gehalts und den Auszug aus dem der Uni zugehörigen Zimmer bedeutet.

Ihr Doktorvater wirft ihr eine verspätete pubertäre Reaktion vor, wobei er vielleicht nicht ganz Unrecht hat. Doch bleibt Marguerite nicht im Trotzmoment stehen. Sie hat sich entschieden, den Ort, der ihre geistige und seelische Heimat war, samt Vaterfigur zu verlassen, und übernimmt schnell Verantwortung – mit der ihr eigenen Rationalität.

Ohne zu zögern, nimmt sie die erste Gelegenheit wahr und zieht bei Noa, einer jungen Tänzerin, ein. Diese steht in ihrem Wesen, das Leben wahrzunehmen, Marguerite diametral gegenüber. Sie nimmt das Leben vor allem durch den Körper und die Gefühle wahr. Schade, dass dieser andere Ansatz des Lebens sexualisiert dargestellt werden muss.

Klarheit des Ziels

Marguerite geht mit einer Aufrichtigkeit durchs Leben, die keine Scheu hat, die Dinge unumwunden beim Namen zu nennen. Dabei ist dies keine Masche oder angelernte Methode. Es ist wohl eher ihrer Konzentration auf das Ziel geschuldet, die keine vermeintlich unnötigen Verzögerungen duldet. Dass sie mit diesem Schwert der Klarheit anderen auch ins Herz schneidet, ist ihr nicht bewusst.

Marguerite wird klar, dass sie nur gemeinsam zum Ziel kommen, und fragt Lucas, ob er mit ihr arbeiten möchte. Foto: TS Productions, Michaël Crotto

Lucas, der andere Doktorand, formuliert es so: „Du bist so kalt, so verschlossen, da kann ich nicht arbeiten.“ Er war es auch, der Marguerites Fehler bemerkte und an ihrer Stelle nun von Professor Werner weiter betreut wird. Dennoch springt sie über ihren Schatten und bittet ihn, mit ihr weiter an dem Beweis der Goldbachschen Vermutung zu arbeiten, als ihr klar wird, dass es nur gemeinsam geht und sie nicht die Leidenschaft ihres Lebens, die Mathematik, einfach so aus ihrem Leben verbannen kann. Auch nicht mit Mah-Jongg-Spielen.

Dass es nicht um eigenen Ruhm und Stolz geht, sondern ein Vorwärtskommen in der Hingabe an die Sache liegt, formuliert auch Prof. Werner. Wie weit er dies auch wirklich leben kann, bleibt als Frage im Raum. Denn auch er neigt dazu, sich in der Sackgasse des egoistischen Strebens und der vermeintlich puren, von Gefühl „gereinigten“ Ratio zu verrennen. Und wenn Regisseurin und Drehbuchautorin Anna Novion ihn von den herben Enttäuschungen im Laufe seines Berufslebens erzählen lässt, wird seine Figur angenehm vielschichtig.

Alles ist da

Schön, wie sich in der Geschichte sanft und behutsam die Verwandlung Marguerites herausschält. Wie deutlich wird, dass es zum Erfolg und Glück im Leben beides braucht: Herz und Verstand. Dass Sich-Ergänzen, die Mitte gefragt ist, keine Extreme.

Da ist die Wissenschaft, die alles belegen will, und die Marguerite Halt gibt in der Unendlichkeit des Kosmos. Und da gibt es diesen anderen Teil, dem es sich hinzugeben gilt. Dieser andere Teil, der mit dem kommuniziert, was das Leben uns scheinbar zufällig zufallen lässt, der annimmt, sich öffnet – der das Mysterium des Lebens geschehen lässt in dem tiefen Vertrauen, dass nichts ohne Bedeutung ist.

Kommen also vernunftbetonte Wahrhaftigkeit und herzerwärmende Güte zusammen, fängt die Symphonie des Lebens an zu klingen. Erst als Marguerite die Zuwendung ihrer zu Recht besorgten Mutter wieder in ihr Leben lässt und sich Kraftquellen wie der Natur öffnet, fällt ihr die Lösung förmlich vor die Füße.

Überraschende Momente

Schön auch, wie in vielen Momenten das Ungestüme und die Kreativität, die mit Forschung einhergeht, sichtbar wird. Etwa wenn Marguerite die Wände ihrer Wohnung schwarz streicht, um darauf die sich scheinbar unendlich aneinanderreihenden Mathematikformeln zu schreiben, und schließlich nichts mehr davor sicher ist, beschrieben zu werden, bis hin zum Zimmer der Mitbewohnerin.

Beeindruckend, dass hierfür mit der französischen Mathematikerin Ariane Mézard als Beraterin zusammengearbeitet wurde und so alle niedergeschriebenen Gleichungen nicht nur eine gewisse Ästhetik ausstrahlen, sondern auch mathematischer Wahrheit entsprechen.

Erstaunlich auch, dass die Bilder, die im Kopf bleiben, obwohl es in der heutigen Zeit in einem gewöhnlichen Umfeld spielt, Schönheit ausstrahlen. Vielleicht, da die Menschen im Mittelpunkt stehen. Die Musik von Pascal Bideau trägt das Ihre dazu bei. Sie ist gleichzeitig emotional dicht, aber auch klar, und bringt damit die Reinheit von Marguerites Wesen hervor.

Kunst und Verantwortung des Geschichtenerzählens

Um sich aus ihrer intellektuellen Verkopftheit zu lösen, meint Marguerite, dies in einem sogenannten One-Night-Stand zu finden, was sie später unter der Rubrik Recreation, also Erholung, einordnet. Das Verdrehen der klassischen Frau-Mann-Rollenbilder amüsiert natürlich zunächst. Doch warum möchte dieser Mann später sie unbedingt wiedersehen? In jedem Fall ist es für keinen Menschen gut, nur als Objekt der Lust für einen anderen gebraucht zu werden. Und langfristig sicher auch nicht für den, der „gebraucht“.

Mit Ella Rumpf (Marguerite), Julien Frison (Lucas) und Sonia Bonny (Noa) fand die französich-schwedische Regisseurin Novion ein starkes Team. Sonia Bonny verleiht ihrer Noa, die Marguerite eine Freundin wird, eine erfrischende Wärme. Julien Frison kontrastiert mit seinem lebenszugewandten und musizierenden Lucas die in sich verschlossene Marguerite.

Ella Rumpf gibt dabei zu keinem Zeitpunkt ihre Figur der Lächerlichkeit preis. Im Gegenteil hat sie trotz aller Härte auch einen inspirierenden Aspekt für alle, die von der anderen Seite, sprich mit zu wenig Struktur und viel Gefühl, kommen. Dafür wurde die 29-jährige Ella Rumpf letztes Jahr mit dem Prix Lumière und dem César als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.

Clotilde Courau als Mutter Suzanne und Jean-Pierre Darroussin als Prof. Werner verkörpern überzeugend die ältere Generation, die selbst nicht gerade als starke Vorbilder für die kommende Generation dienen, jedoch sich aufgrund der unvermeidbaren Schicksalsschläge des Lebens nicht komplett verhärten haben lassen.

Der Doktorvater Prof. Werner wird zur herben Enttäuschung für Marguerite. Foto: TS Productions, Michaël Crotto

Im Übrigen stehen Margeriten in der Blumensprache für Natürlichkeit und das Gute. In diesem Sinne können Sie sich auf den deutschen Kinostart des französisch-schweizerischen Films am 27. Juni freuen. Und – er endet gut. Welch Wohltat.

Bei einer Höchstbewertung von fünf Sternen bekommt er bei uns vier.

Filmplakat. Foto: TS Productions, Michaël Crotto



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