Schätzungsweise 1 Million Diagnosen übersehen: Europa droht eine Krebsepidemie

Alarmierender Bericht geht von erschreckend hoher Anzahl unentdeckter Erkrankungen aus. Überlebenschancen vieler Patienten sinken. Mehr Geld für Vorsorge gefordert.
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100 Millionen Vorsorgeuntersuchungen sind während der Pandemie entfallen.Foto: istock/gorodenkoff
Von 18. November 2022

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Europa droht offenbar eine „Krebsepidemie“. Als Ursache nennen Experten die Corona-Pandemie. Seit dem Ausbruch hätten Ärzte schätzungsweise eine Million Erkrankungen nicht entdeckt und diagnostiziert, schreibt der britische „Guardian“ auf seiner Internetseite. In Deutschland sind laut dem Magazin „Spiegel“ 50.000 Operationen verschoben worden. Die Deutsche Krebshilfe warnt nun vor fatalen Folgen.

Schwachstellen in Gesundheitssystemen

Die Auswirkungen von COVID-19 und die Fokussierung darauf hätten „Schwachstellen“ in den Gesundheitssystemen und in der Krebsforschung auf dem gesamten Kontinent aufgedeckt, heißt es im „Guardian“ weiter. Werden diese Schwachstellen nicht behoben, werfe das die Krebsbekämpfung um ein Jahrzehnt zurück, fürchten Experten aus Gesundheitswesen und Wissenschaft.

Ein Bericht mit dem Titel „European Groundshot – Addressing Europe’s Cancer Research Challenges: a Lancet Oncology Commission“ brachte ein breites Spektrum von Patienten-, Wissenschafts- und Gesundheitsexperten mit detaillierten Kenntnissen über Krebs in ganz Europa zusammen. Eine „unbeabsichtigte Folge der Pandemie“ seien die negativen Auswirkungen, die die rasche Umwidmung von Gesundheitsdiensten und Schließungen für Forschung und Patienten hatten.

Beeinträchtigung der Lebensqualität

„Um das Ausmaß dieses Problems zu verdeutlichen, schätzen wir, dass während der COVID-19-Pandemie europaweit etwa eine Million Krebsdiagnosen übersehen wurden“, schreiben die Experten in „The Lancet Oncology“. Es gebe Hinweise darauf, dass bei einem höheren Anteil der Patienten im Vergleich zu den Raten vor der Pandemie spätere Krebsstadien diagnostiziert werden. Das sei auf erhebliche Verzögerungen bei der Krebsdiagnose und -behandlung zurückzuführen. Diese Verschiebung der Krebsstadien werde die europäischen Systeme in den kommenden Jahren weiter belasten. Letztlich beeinträchtige das auch die Lebensqualität und die Überlebenschancen vieler Patienten.

100 Millionen Vorsorgeuntersuchungen ausgefallen

Eine Datenauswertung habe gezeigt, dass Ärzte im ersten Jahr der Pandemie 1,5 Millionen Krebspatienten weniger behandelten. Dabei sei jeder zweite Erkrankte nicht rechtzeitig operiert oder mit einer Chemotherapie versorgt worden. Etwa 100 Millionen Vorsorgeuntersuchungen seien entfallen.

„Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit, um diese fehlenden Krebsfälle zu finden“, sagt Prof. Mark Lawler. Er arbeitet an der Queen’s University Belfast und ist Hauptautor der Kommission, die nun den Bericht vorgelegt hat.

Krebsforschung dringend Vorrang einräumen

Auch sei die Krebsforschung durch die Schließung von Labors und der Verzögerung oder Streichung klinischer Studien während der ersten Pandemiewelle aus dem Blick geraten. „Wir befürchten, dass Europa im nächsten Jahrzehnt auf eine Krebsepidemie zusteuert, wenn den Gesundheitssystemen und der Krebsforschung nicht dringend Vorrang eingeräumt wird“, betont Lawler.

Belastung durch Ukraine-Krieg und Brexit

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine stelle ebenfalls eine „große Herausforderung“ für die Krebsforschung in Europa dar, heißt es in dem Bericht. Beide Länder gehörten zu den größten Beitragszahlern zur klinischen Krebsforschung in der Welt. Der Brexit Großbritanniens werde sich nach Ansicht der Kommission ebenfalls negativ auf die Arbeit der Wissenschaftler auswirken.

Vor dem Hintergrund dieser Problematiken ist es laut Lawler „wichtiger denn je, dass Europa eine widerstandsfähige Krebsforschungslandschaft entwickelt“. Nur so könne die Forschung auf dem Kontinent zur Verbesserung von Prävention, Diagnose, Behandlung und Lebensqualität für Patienten beitragen.

40 Prozent der Erkrankungen könnten vermieden werden

In dem Bericht weisen die Experten auch darauf hin, dass vor allem die Vorsorge nicht die finanzielle Unterstützung erhalte, die notwendig wäre. Eine stärkere Konzentration auf die Prävention würde die Zahl der Erkrankungen verringern. Gleichzeitig stünden mehr Mittel für Behandlungen zur Verfügung, heißt es in dem Bericht. Nach Ansicht von Fachleuten seien 40 Prozent der Krebserkrankungen in Europa vermeidbar. Voraussetzung sei, dass Ärzte das Wissen über Krebsrisikofaktoren bei der Prävention besser nutzten, sagt Anna Schmütz von der Internationalen Agentur für Krebsforschung.

Nicht alle Verschiebungen medizinisch vertretbar

In Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Krebshilfe bis Juni dieses Jahres rund 50.000 „nicht notwendige Operationen“ ausgefallen, schreibt der „Spiegel“. Das sei „eine gewaltige Zahl“ und entspreche etwa einem Viertel aller geplanten Krebsoperationen. Das Bundesgesundheitsministerium hatte zum Beginn der Pandemie Kliniken angewiesen, vorsorglich Betten für Corona-Patienten freizuhalten.  Neben den chirurgischen Eingriffen entfielen aber auch viele Früherkennungsmaßnahmen. Gerd Nettekoven sorgt sich nun um die Patienten, deren Zahl in die Zehntausende gehen könnten. In der „Augsburger Allgemeinen“ sagte der Chef der Deutschen Krebshilfe, dass Verschiebungen nicht in allen Fällen „auch medizinisch vertretbar“ waren. Die Menge an verschobenen Behandlungen seien nicht „sehr zeitnah in den Griff zu bekommen“. Das bedeute, dass die Situation bei den Patienten als auch bei der Früherkennung angespannt bleibe. „Wir befürchten leider, dass wir in nächster Zeit mit Patienten konfrontiert sein werden, bei denen die Diagnose sehr spät gestellt wird. Auch das kann fatale Folgen haben“, sagt Nettekoven.



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