Epoch Times: Im Bundestag gilt neuerdings die 2G-plus-Regelung. Wie bewerten Sie diese Regelung in unserem demokratisch gewählten Parlament?
Ulrike Guérot: Ich halte diese Regelung für wirklich in jeder Hinsicht verwerflich. Das Parlament ist die Repräsentation des deutschen Volkes, also aller Bürgerinnen und Bürger. Damit muss dieses Parlament auch die Gruppe der Ungeimpften repräsentieren, die müssen sich symbolisch und politisch gleichwertig vertreten fühlen und nicht als ausgegrenzt. Ausgrenzung ist kein Mittel der Demokratie. Wir haben ungefähr ein knappes Drittel ungeimpfte Personen in der Bundesrepublik Deutschland. Noch ist geltendes Recht, dass eine Impfentscheidung eine freie Entscheidung ist. Das heißt, es gibt keine valide Begründung, diese Bevölkerungsgruppe auszugrenzen.
Ich hätte mir im Bundestag 1G gewünscht. Das wäre überhaupt das Vernünftigste, dass alle getestet werden. Damit wäre klar, dass von den Abgeordneten im Bundestag [bei einem Negativtest] keiner gefährlich ist. Dann wäre der Impfstatus wieder Privatangelegenheit – alle sind getestet und alles ist gut. Das wäre ein Signal gewesen, wie wir erwachsen, demokratisch und gleichzeitig achtsam mit dieser Krise umgehen. Alles andere ist für mich eine fast bewusst insinuierte Ausgrenzung, die ethisch, rechtlich, politisch und auch epidemiologisch eigentlich nicht zu rechtfertigen ist, zumal inzwischen ja klar ist, dass auch Geimpfte ansteckend sein können und Herdenimmunität nicht hergestellt werden kann.
ET: Nun müssen Menschen erst einmal belegen, dass sie gesund beziehungsweise immunisiert sind, um ihre Grundrechte wahrnehmen zu können. Ist es möglich, hier einen Bogen zum Rechtsstaatlichkeitsprinzip der Unschuldsvermutung zu spannen, oder ist das zu weit hergeholt?
Guérot: Ich würde diese Frage gerne auf zwei Ebenen beantworten. Wir haben zum einen die Tendenz, Artikel 2 Grundgesetz umzudeuten. In Artikel 2 ist die Unverletzlichkeit des Körpers oder das Recht auf körperliche Selbstbestimmung geregelt. Das ist eigentlich ein Abwehrrecht gegenüber einem staatlichen Übergriff in den Körper hinein. Mit anderen Worten: Der eigene Körper ist die Grenze der Souveränität. In den 1970er-Jahren gab es beispielsweise Debatten wie „Mein Bauch gehört mir“, also die Gemeinschaft kann mich nicht zwingen, das Kind auszutragen.
Jetzt wurde tendenziell im Zuge der Corona-Krise Artikel 2 umgedeutet in ein Recht auf Gesundheit bzw. ein Recht auf Nicht-Ansteckung: „Ich habe ein Recht darauf, nicht angesteckt zu werden […] Weil ich das Recht habe, nicht angesteckt zu werden, musst du dich auch impfen lassen.“ Daraus wurde eine Pflicht abgeleitet, die dann auch noch verniedlicht wurde mit „der kleine Pieks“ oder „tu es für die Gemeinschaft“. Normalerweise operiert ein Rechtsstaat aber nicht mit dem Begriff der Pflicht. In einem Rechtsstaat besteht die Pflicht, sich an das Recht zu halten. Genau deshalb möchte man jetzt aus der Pflicht ein Recht machen, indem die Impfpflicht gesetzlich verankert werden soll.
Pflichten gibt es in geschlossenen Gemeinschaften, in denen man sich auf einen bestimmten Moral-Kodex einigt. Das ist die große Unterscheidung zur offenen Gesellschaft, wo man akzeptieren muss, dass andere Leute ganz anders denken und glauben. Man muss sie auch nicht mögen. Die geschlossene Gemeinschaft hat schon entschieden, wer gut und wer böse ist; und wer böse ist, kommt gar nicht hinein. Wer also seine Pflicht nicht tut, ist nicht Teil der geschlossenen Gemeinschaft und wird ausgegrenzt. Das ist die große Unterscheidung von Ferdinand Tönnies zwischen der offenen Gesellschaft und der geschlossenen Gemeinschaft.
In der offenen Gesellschaft aber müssen Sie Leute ertragen, die Ihnen gar nicht passen oder die Ihnen vielleicht sogar zuwider sind. Im Volksmund sagt man richtigerweise: Man kann in schlechter Gesellschaft sein, aber nicht in schlechter Gemeinschaft, weil die Gemeinschaft schon vorher die Guten aussortiert. Das ist ganz wichtig.
In Corona-Diskurs haben wir gesagt: Wer sich nicht impfen lässt, ist nicht solidarisch, er gehört also nicht mehr zu dieser Gemeinschaft, die genau um diese Frage ihre Schließung organisiert. Hier hat also schon eine gefährliche Verschiebung von offener Gesellschaft zu einer geschlossenen Gemeinschaft stattgefunden. Das alles konnte aber nur durch die Umdeutung passieren, dass man – vermeintlich - ein Recht auf Gesundheit oder ein Recht auf Nichtansteckung hat, was – jedenfalls in der Genese – nicht dem Sinn von Artikel 2 entspricht.
Fraglich ist ja überhaupt, ob eine Nicht-Ansteckung schematisch kontrolliert werden kann, wo die Ansteckungswege letztlich nicht klar sind: Es gibt Eheleute, von denen der eine das Virus hat und der andere nicht. Da kann man fragen: Warum ist das so? Aus meiner Sicht war es ein Fehler, zu versuchen, mehr oder weniger lineare Ansteckungswege zu unterstellen und Ansteckung de facto als „Schuld“ zu werten: Niemand kann etwas dafür, wenn er sich infiziert; und niemand ist an der Weitergabe eines Virus schuld im Sinne einer schuldhaften Handlung. Ich persönlich fand es deswegen irritierend, dass wir in dieser Diskussion tatsächlich oft den Begriff der Schuld gebraucht haben; einerseits, um sehr schematisch das Ansteckungsverhalten zu kontrollieren; andererseits, um Schuld zu vermeiden. „Damit du nicht schuld bist, wenn der Opa stirbt, musst du dich impfen lassen“ und so weiter. Das übersieht eine letzte Unverfügbarkeit, dass einige sich anstecken und andere nicht. Ich halte es für darum ethisch problematisch, bei Ansteckungswegen mit dem Schuldbegriff zu operieren. Wir sollten diesen Begriff vermeiden.
Auch der Versuch, hypothetische Risiken zu vermeiden und deswegen die vielen präventiven Testungen vorzunehmen, halte ich tendenziell für unverhältnismäßig. In meinen Augen haben wir in den vergangenen zwei Jahren kein intelligentes Risikomanagement betrieben, sondern eine mehr oder weniger absolute Risikovermeidung versucht („Zero Covid“) z.B. durch Lockdowns. Damit aber vergibt man sich wichtige Erfahrungswerte und schiebt letztlich Unvermeidbares, nämlich die Konfrontation mit dem Virus, hinaus. Heute wissen wir, dass die sogenannten „non-medical measure" (Lockdowns) keinen statistisch messbaren Effekt auf das Infektionsgeschehen hatten, dafür aber viele gesellschaftliche Schäden und Leid hervorgerufen haben.
Der Rechtsstaat kennt sonst kaum präventive Maßnahmen. So ist zum Beispiel Vorbeugehaft, nur weil jemand vielleicht gefährlich aussieht, aus gutem Grund verboten. Ich nenne ein anderes Beispiel: Wenn Sie Auto fahren, haben Sie kein Recht darauf, nicht angefahren zu werden. Wenn Sie aber angefahren werden, haben Sie ein Recht darauf, dass gegen denjenigen, der Sie angefahren hat, ein Rechtsverfahren eingeleitet und der Täter bestraft wird. Das Risiko, dass ein Unfall passiert, tragen Sie aber selbst. Wenn jemand neben Ihnen ertrinkt und neben Ihnen ein Rettungsring ist, müssen Sie diesen ins Wasser werfen. Sonst ist das unterlassene Hilfeleistung. Sie müssen aber nicht hinterherspringen und sich möglicherweise selbst gefährden, um ihn zu retten. Das ist die Grenze.
Die Thematik der präventiven Sicherheit ist nicht neu. Das Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft ist gestiegen. Es gibt seit Langem eine Ausweitung präventiver Politik und des Schutzes z.B. auch die inzwischen fast flächendeckende Videoüberwachung: CCTV z.B. gibt es in allen britischen Zügen oder U-Bahnen. Sicherheit geht heute über alles! Es sollte aber klar sein, dass das die Freiheit eben deutlich einschränkt. Ebenso gibt es heute eine gesellschaftliche Tendenz, dass immer jemand schuld sein muss, wenn etwas passiert. Sofort wird ein Schuldiger gesucht. Wir haben als Gesellschaft offensichtlich die Fähigkeit verloren, zu akzeptieren, dass Dinge auch einfach passieren können und niemand konkret schuld ist – und dass, selbst wenn es menschliches Versagen gab, dieses eben keine Schuld ist.
Wenn die Gesellschaft nicht immer höhere Sicherheitsansprüche hätte, müsste die Politik auch nicht darauf reagieren. Diese Wechselwirkung konnten wir auch schon vor Corona beobachten. Es gibt praktisch in jedem Politikbereich immer mehr präventive Maßnahmen.
Ich glaube, es täte der Gesellschaft gut, jenseits von Corona über das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit neu nachzudenken, denn eine Demokratie ist keine Vollkaskoversicherung. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn jeder sein normales Lebensrisiko trägt. Das geht nur mit mündigen Bürgern und nur dann, wenn jeder – auch in Krisenzeiten – in die Eigenverantwortung geht. Aus vielen Studien wissen wir, dass Menschen am besten reagieren und mit Krisensituationen umgehen können, wenn sie in die Verantwortung gestellt werden. Die patriarchalen Allüren des Staates während der Corona-Krise haben mich persönlich gestört; der Appell an die Eigenverantwortung hat mir gefehlt. Ich brauche z.B. keine Klebestreifen auf dem Boden, um zu wissen, wie viel 1,50 Meter sind, es reicht die Armelle und Verantwortungsbewusstsein.
Wohin die Ausweitung präventiver Politik führt, zeigt ein Beispiel aus Frankreich. Dort hat man 2016 wegen des Terrors Notstandsgesetze verhängt. 2017 wurden diese Notstandsgesetze dann von Macron aufgehoben. Zuvor aber wurden zentrale Elemente der Notstandsgesetzgebung in normales Recht überführt z.B. das präventive Verbot von Demonstrationen, wenn eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit drohe, was große Ermessensspielräume schafft. Wenn Sie heute Präfekt in einer französischen Stadt sind, können Sie mit dem Verweis auf die potenzielle Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zum Beispiel Demonstrationen der Gelbwesten verbieten. Sozialer Protest kann also präventiv unterbunden werden, mit dem Argument, dass er vielleicht die öffentliche Ordnung stört. Ich halte das für eine problematische Tendenz.
ET: Seit Kurzem wird die Dauer des Genesenenstatus allein vom RKI festgelegt. Wie ist das zu bewerten?
Guérot: Ich halte wie viele diese Entscheidung für extrem problematisch. Wir haben global die gleichen Daten und müssen jetzt nüchtern feststellen, dass die Bewertung dieser Daten in Deutschland zu anderen politischen Schuldforderungen führt - nämlich den Genesenenstatus auf zwei Monate zu reduzieren - als in anderen Ländern. In der Schweiz und Spanien ist der Genesenenstatus z.B. auf ein Jahr festgelegt, in Großbritannien noch länger. Da ist die Frage, wie politische Entscheidungen auf der Grundlage von gleichen Daten so unterschiedlich sein können? Man darf darum vermuten, dass diese Entscheidung eine politische Motivation hat. Wenn man den Genesenenstatus verkürzt, müssen sich die Leute impfen lassen. Dabei wissen wir aus allen verlässlichen Studien, dass die natürliche Immunisierung eigentlich die bessere Immunisierung ist.
Demokratie bedeutet, dass mit Vernunft regiert wird und – wie Habermas sagen würde – im herrschaftsfreien Diskurs allein das bessere Argument die Grundlage politischer Entscheidungen ist. Wenn wir jetzt sehen müssen, dass die Wissenschaft immer dann außen vor bleibt, wenn es darum geht, bestimmte politische Maßnahmen zu pushen, lässt das Zweifel an Verhältnismäßigkeit und Rationalität aufkommen. Für eine Demokratie ist das problematisch, denn eine Demokratie funktioniert mit Normenakzeptanz und nicht mit einem wirschen: „Das ist jetzt eben so!“ Es geht darum, Dinge zu begründen. Wenn wir diesen Boden verlassen, dann ist das problematisch. Ich hoffe, dass die Politik diese Entscheidung revidiert.
Mich wundert auch, dass der große öffentliche Aufschrei ausbleibt. Es sind Hunderttausende Personen betroffen, denen im Prinzip über Nacht der 2G-Status weggenommen wurde. Vom RKI wurde zeitgleich über Nacht – und ohne parlamentarische Mitwirkung – auch verkündet, dass die Impfung mit Johnson & Johnson nicht mehr gültig ist, also einfach nicht mehr zählt. Das kann man mit Verstand schon nicht mehr nachvollziehen. Von heute auf morgen wird entschieden, dass ein Impfstoff, den man noch vor Monaten gepriesen hat, nicht mehr wirksam ist. Da fragt man sich schon, ob man das nicht gewusst hat, als man den Impfstoff zugelassen hat.
Mir scheint, dass wir uns schon mit einer gewissen Gleichmütigkeit an ein politisches Geschehen gewöhnt haben, das zunehmend zu hinterfragen ist. In der Gesellschaft hat eine Zermürbung eingesetzt: „Ich versteh nichts mehr“, „das ist mir alles viel zu kompliziert, welche Regel gerade heute gilt“, „lass mich nur in Ruhe“, „Corona; ich kann es nicht mehr hören“, „hoffentlich ist es bald vorbei“… Da sind wir längst. Diese Zermürbung führt dazu, dass man sich schon über gar nichts mehr aufregt, auch nicht über politisch sehr fragwürdige Dinge.
Eigentlich müsste die Änderung des Genesenstatus der Moment sein, wo viele sagen: „Jetzt reicht es!“ Es müsste ein Argument dafür sein, ernsthaft über die Beendigung aller Maßnahmen nachzudenken, wenn diese so widersprüchlich sind. Wenn selbst so eklatante Dinge keine Umsteuerung des politischen Geschehens bewirken, dann ist das problematisch.
Denn im Parlament wird jetzt über eine generelle Impfpflicht diskutiert. Niemand weiß, ob sie jetzt kommt oder nicht, aber die Impfpflicht ist zumindest immer noch die politische Linie der Regierung. Wenn die Kritik nicht mehr die Funktion einer Kritik erfüllt, nämlich ein politisches Geschehen aufgrund von Erkenntnissen umzusteuern, dann wären wir in dem Zustand, den die katalanische Philosophin Marina Gaze „die Neutralisierung der Kritik“ nennt. Damit ist gemeint, dass man zwar alles sagen darf und darüber auch öffentlich diskutiert wird, aber die Kritik ist nicht mehr entscheidungsrelevant.
ET: Kritiker auf sozialen Plattformen werden zensiert, immer mehr Demonstrationen verboten oder aufgelöst und es finden auch Hausdurchsuchungen bei Ärzten, Rechtsanwälten oder Richtern statt, die sich gegen die politische Vorgehensweise stellen. Sind wir jetzt in unserer Demokratie ernsthaft bedroht oder sind wir schon unmerklich in einer Autokratie gelandet?
Guérot: Europa, Frieden, Freiheit, Gesundheit, Liebe – bei all diesen Dingen merkt man den Verlust erst, wenn sie weg sind – und dann ist es meistens zu spät. Insofern ist die Frage nach den Verformungen unserer Demokratie schwer zu beantworten. Wann haben wir die Art und Weise verloren, wie wir einmal waren, wie unsere Demokratie einmal war, wie wir miteinander umgegangen sind, als wir einander noch respektvoll zugehört haben? War das gestern oder vorgestern oder vielleicht schon vor sechs Wochen oder vor sechs Monaten? Es ist eben ein schleichender Prozess, kein abrupter, darum bemerkt man es nicht. Nach meiner Meinung sind wir schon tief gefallen als Gesellschaft. Ist es jetzt wiederum schon so, dass wir die demokratischen Verformungen nicht mehr herrichten können? Ich weiß es nicht. Aber wir werden einander viel zuhören, verzeihen und uns wieder miteinander versöhnen müssen.
Inakzeptabel ist, dass unbescholtene Passanten auf Montagsspaziergängen auf einmal zu Delinquenten werden. Ich kenne Leute aus der normalen bürgerlichen Mitte, die von der Polizei abgeführt wurden, weil sie auf einem Marktplatz zu dritt zusammenstanden. Es sind viele übergriffige Dinge gelaufen – übrigens nicht nur in der Bundesrepublik, beispielsweise auch in den Niederlanden, in Frankreich oder in Italien, wo teilweise brutale Polizeieinsätze stattgefunden haben und u.a. Hunde ohne Maulkorb eingesetzt wurden.
Ich finde es ebenfalls sehr problematisch, dass von den wochenlangen, massiven Demonstrationen zum Beispiel in Genua oder Mailand in Italien, aber auch in vielen anderen europäischen Städten praktisch nicht in den Leitmedien berichtet wurde.
Wir haben inzwischen auch Formen der Nachzensur, wenn Youtube-Clips oder Postings auf Sozialen Medien gelöscht werden, und sogar bei den Öffentlich-Rechtlichen z.B. dem SWR Sendungen aus der Mediathek genommen werden. Da stellt man sich schon die Frage, wer nachträglich etwas löscht und warum – und mit welchem Recht? Wer löscht bei Twitter? Wer löscht bei LinkedIn? Wer entscheidet, was Fake-News sind und was nicht? In einer Demokratie gibt es nicht die eine Wahrheit. Ich habe Freunde, die keine generellen Impfverweigerer sind. Sie haben aber z.B. mit Blick auf COVID-19 impfkritische Beiträge auf LinkedIn gepostet, die gelöscht wurden. Mein Freund Ortwin Rosner, ein Journalist, hat einen sehr differenzierten Artikel zur Impfung im österreichischen „Der Standard“ geschrieben. Der Artikel ist für 72 Stunden von der Internetseite verschwunden, bis ein paar Leute, darunter ich, gesagt haben, dass das nicht geht. Dann ist der Artikel wieder auf der Internetseite erschienen. Aber Herr Rosner hat seinen Honorarvertrag beim „Standard“ verloren. Wir haben also solche Phänomene, die man letztlich als Zensur bezeichnen muss, und zwar massiv.
Die Frage ist: Wer bekommt davon eigentlich etwas mit? Ich habe den Eindruck, dass weite Teile der Bevölkerung das noch nicht einmal bemerken. Es gibt „Frontrunner“, die sich, wie auch ich, seit zwei Jahren an dieser Diskussion beteiligen; die haben einiges mitbekommen. Ich selbst habe Anfeindungen, eine Rufmordkampagne, Stigmatisierung, Löschung und so weiter erlebt, und ich habe viele Freunde, denen das auch passiert ist. Ich kenne aber genauso viele Leute, die das gar nicht mitbekommen und es dann auch nicht glauben wollen, wenn man es erzählt. Das muss man ernst nehmen. Man weiß eben nur selten, was nicht berichtet wird. Die meisten Leute informieren sich abends zehn Minuten bei ZDF oder ARD, vielleicht noch in der Regional-Zeitung und ein bisschen im Radio. Ich denke, dass wir in einem kritischen Zustand der Medienberichterstattung sind. Wie ernst die Verschiebungen des Diskurses sind, wie einseitig, wie stark die false balance ist, dass es Nachzensur gibt und so weiter, das hat die breite Allgemeinheit noch nicht erkannt. Das ist wie mit der Herdplatte: Wenn sie die Herdplatte nicht anfassen, wissen sie nicht, dass sie heiß ist.
Insofern müsste sich eine breite Öffentlichkeit überhaupt erst einmal der Tatsache öffnen, dass der Diskurs tatsächlich schon arg verformt ist. Das gilt z.B. auch für die Berichterstattung über die Demonstrationen – von welcher Warte aus, mit welcher Haltung über diese berichtet wird. Die Demonstrationen gelten per se als nicht legitim, die Demonstranten als unvernünftig, sie werden zudem pathologisiert. Inzwischen gibt es Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, das hatten wir in dieser Form noch nie. In einem MDR-Interview hat Juli Zeh letztens von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesprochen. Wenn Sie Bevölkerungsgruppen haben, die einander praktisch unversöhnlich gegenüberstehen, dann ist das höchst problematisch. Wo ist das versöhnende Element. Wer moderiert die beiden Gruppen und auf welche Seite stellt sich die Politik? In diesem Fall sehen wir, dass sich die Politik recht einseitig auf die Seite derjenigen stellt, die eine Impfpflicht befürworten. Alle anderen werden selbst in den Worten des Bundeskanzlers als nicht ernst zu nehmende und auch noch radikalisierte Minderheit benannt und ausgegrenzt.
Wenn wir in so eine Spirale kommen, ist das verhängnisvoll. Wir sollten uns auch Mechanismen der strukturellen Gewalt anschauen und wie diese sich in diesem Corona-Diskurs längst verfestigt haben. Und zwar ohne, dass die politische Mitte es selbst merkt, weil sie tatsächlich glaubt, dass es nur eine einzige richtige Lösung gibt. Sie meint, sie habe eine Wahrheit, sie ist in der Mehrheit – und hat eine Moral dazu.
Ich glaube, wir müssen die Konfrontation auflösen und die parallelen Diskurse, die wir haben - also die in den Leitmedien und die in den sogenannten alternativen Medien – wieder miteinander verknüpfen. Die Maßnahmen-Kritik muss in der Mitte der Gesellschaft ankommen und ernst genommen werden. Wir müssen die Hände ausstrecken, einander zuhören und den jeweils anderen im Argument ernst nehmen und nicht mehr persönlich verunglimpfen. Das wäre wirklich mein großer, großer Wunsch!
ET: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Alexander Zwieschowski. (redaktionelle Bearbeitung: sua)
Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Sie hat außerdem das European Democracy Lab (www.eudemlab.org) gegründet, ein Think Tank der sich mit der Zukunft europäischer Demokratie befasst. Sie lebt in Bonn und Berlin.
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