In Berlin bereiten sich die Freien Wähler auf die im September geplante Abgeordnetenhauswahl vor. Am 24. April 2021 stellten die Mitglieder den Abgeordneten Marcel Luthe als Spitzenkandidaten auf. Luthe, der bisher die FDP im Landtag vertrat, verließ im Oktober 2020 nach 20 Jahren Mitgliedschaft die FDP und wechselte kurz darauf zu den Freien Wählern über.
Der Abgeordnete kritisiert die vierte Änderung des Infektionsschutzgesetzes als verfassungswidrig. Die Art und Weise, wie die Inzidenz berechnet und erhoben werden, sei nicht standardisiert. Solange die Werte nicht sauber und präzise erfasst werden, bleibe dies eine „Milchmädchenrechnung“, sagt er im Interview mit der Epoch Times.
Epoch Times: Herr Luthe, was hat Sie überzeugt, sich den Freien Wählern anzuschließen?
Marcel Luthe: Mich hat überzeugt, dass die Freien Wähler immer gestanden haben. Es handelt sich nicht um eine Umfallerpartei, sondern um eine Partei, die für ihre Überzeugungen steht und das auch gegen den Strom. Genau das habe ich bei meiner alten Partei, der FDP, vermisst. Es kommt mir darauf an, dass sie nicht vor einer Wahl eine Aussage machen und diese fünf Minuten nach der Wahl wieder zurückdrehen. Und das die Menschen wissen, wofür die einzelnen Persönlichkeiten stehen.
ET: Sie sind als jemand bekannt, der auch unangenehme Fragen stellt. Wollen die Freien Wähler auf dem Spitzenplatz zeigen, dass sie verstärkt in den Diskus gehen und kritische Fragen stellen wollen?
Luthe: Was die Mitglieder einzeln dazu bewogen hat, weiß ich nicht. Entscheidend ist, dass jedem, mit dem ich gesprochen habe, klar ist, dass Berlin eine Opposition braucht. Eine Opposition, die in der Lage ist, mit allen anderen zu sprechen. Das ist ja die Aufgabe eines Parlamentariers und in einem Parlament.
Und das auch, wenn manche der rot-rot-grünen Parteien eine Spaltung der Gesellschaft wünschen oder sich eine Spaltung ergibt. Es ist umso mehr Aufgabe der Abgeordneten, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Als der eine oder andere Kollege angegriffen wurde, habe ich das auch deutlich gesagt. Wir sind hier in Berlin 160 Abgeordnete. Alle 160 zusammen repräsentieren nach der Verfassung die Berliner Bevölkerung. Wenn ich hingehe und sage, mit dem oder denjenigen rede ich nicht, den mag ich nicht oder seine Partei gefällt mir nicht, dann ist das eine Missachtung des Verfassungsauftrages.
ET: Am 21. April wurde die vierte Änderung des Gesetzes verabschiedet. In welche Richtung geht Ihrer Meinung nach der Beschluss?
Luthe: Ich halte diese Regelung, wie sie getroffen wurde, für verfassungswidrig. Das fängt schon beim „Inzidenzwert“ an, an dem alle Regulierungen festgemacht werden. Es gibt keine saubere, standardisierte Zahlenerhebung, weil wir 962 unterschiedliche Corona-Testverfahren von unterschiedlichsten Herstellern haben, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgelistet sind. Die Verfahren kommen von überall auf der Welt und es gibt für Medizintests in der gesamten Europäischen Union keinen regulierten Markt.
Die Hersteller müssen lediglich das Inverkehrbringen eines solchen Tests anzeigen. Natürlich kann letztlich niemand von ihnen verlangen, dass sie offenlegen, wie genau ihr Test funktioniert und was der testet – dies gehört für die meisten Unternehmen zu den elementarsten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.
Das führt aber dazu, dass Sie große Schwierigkeiten haben, die Spreu vom Weizen zu trennen. Sie haben unterschiedlichste Tests – der eine ist zu 95 Prozent genau, der andere zu 99 Prozent und einer vielleicht nur zu 60 Prozent. Wenn Sie nicht wissen, welcher Test von welchem Hersteller bei jedem einzelnen Ergebnis verwendet wird, dann können Sie die Ergebnisse nicht standardisieren.
Wenn Sie die Unsicherheitsfaktoren nicht rausrechnen, könnte es durchaus passieren, dass Sie am Tag A überall den einen Test mit 60 Prozent Präzision verwendet haben und am nächsten Tag welche mit 99 Prozent Präzision. Dadurch haben Sie keine sauberen Grundwerte erfasst. Damit können Sie natürlich keine Vergleichbarkeit von tagesaktuellen Entwicklungen berechnen.
Dennoch basiert die sogenannte Inzidenzwert-Berechnung darauf. Wir rechnen uns schwindelig mit Zahlen. Fragen aber nicht, ob diese Zahlen eigentlich zu dem Thema passen. Die gesamte Berechnung ist dadurch höchst fragwürdig.
Sie können im Übrigen auch nur aufgrund eines Gesetzes in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreifen und nicht durch ein Gesetz. Auch das ist ein nicht unerheblicher, feiner juristischer wichtiger Unterschied.
Das bedeutet, dass auch bereits die Form, wie sie jetzt gerade gewählt wird, tatsächlich keine Regelungsmöglichkeiten mehr für die Exekutive lässt, um Sachen zu verändern. Das stellt den föderalen Aufbau der Bundesrepublik fundamental infrage, indem man versucht, in solchen Fragen in die Länder und damit auch uns Landesparlamente reinzuregieren.
Als Landtagsabgeordnete werden unsere Rechte beschnitten. Das kann nicht sein. Ich halte das deshalb unter einer Vielzahl von Aspekten schlicht für verfassungswidrig.
ET: Der Berechnung liegt eine PCR-Testung zugrunde. Sie haben eine Frage an den Berliner Senat gestellt: Kann ein PCR-Test eine Infektion im Sinne des Infektionsschutzgesetzes nachweisen? Die Antwort war ein Wort: Nein. Warum wird es trotzdem weiterhin so publiziert?
Luthe: Es gibt das Phänomen des Social Proof [Anm. d. Red.: Social Proof oder auch soziale Bewährtheit beschreibt das Verhalten, dass Menschen dazu neigen, sich an Entscheidungen und Handlungen ihrer Mitmenschen zu orientieren.]. Wenn sich alle so verhalten, wird es schon richtig sein. Das gilt auch für viele andere Gruppen.
Ich habe vor wenigen Tagen in einer Publikation gelesen, es sei natürlich, dass sich die journalistischen Meinungen gerade gleichen, weil es den Menschen per se schwer fällt, sich außerhalb einer sozialen Gruppe zu stellen.
Und wenn alle anderen sagen: „Schau mal! Den kenne ich doch schon lange. Das ist ein Regierungssprecher, der erzählt mir doch absichtlich nichts Falsches.“ Das tut er nicht, aber er bewegt sich in dem gleichen Mikrokosmos, in dem sich die anderen Politiker bewegen. Er kommt nicht einfach auf die Idee, sich außerhalb dieses Wahrnehmungskreises zu stellen und das Ganze von außen zu betrachten.
Er sagt nicht: „Moment mal, wir machen vielleicht einen ganz fundamentalen Fehler, an den bisher gar keiner von uns gedacht hat.“ Es ist nur allzu menschlich, dass sie diese Beobachtungen nicht machen.
Wenn die Politiker sich im Wesentlichen nur mit einem Kreis von Leuten austauschen, die alle derselben Meinung sind, dann kann es durchaus sein, dass es dem einen oder anderen Kollegen schwerfällt, anderer Meinung zu sein. Denn er muss sich gegen alle anderen stellen, mit denen er gestern noch zusammengesessen und genickt hat.
Das ist meines Erachtens ein massenpsychologisches Phänomen. Und je länger diese Situation andauert, desto schwerer ist es natürlich für jeden Einzelnen zu sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht und den Fehler habe ich eben nicht nur gestern gemacht, sondern viele, viele, viele Monate.“
Ich habe im Moment auch keine Lösung dafür. Der Ansatz aus meiner Sicht ist, im Moment der Politik kontinuierlich Fragen zu stellen und die Leute zum Nachdenken zu bringen. Ganz nach dem Motto von Max Weber, dass die Politik das Bohren dicker Bretter sei, wobei der Bohrer ziemlich klein und handbetrieben ist.
Es ist mathematisch und statistisch simpel. Wenn Sie Werte nicht sauber und präzise erfassen, dann können Sie damit alles Mögliche hin und her rechnen. Es bleibt dennoch eine „Milchmädchenrechnung“. Wenn Sie nicht jeden Tag die gleichen Voraussetzungen haben, dann können Sie keine Schwankungen sauber berechnen. Die haben keine Aussagekraft, weil Sie nicht wissen, ob die Voraussetzungen gleich waren. Eigentlich sehr simpel.
ET: Bei der gestrigen [21. April] Demonstration wurde von den Teilnehmern der Politik vorgeworfen, sich vom Föderalismus abzukehren. Wenn die Politiker in ihrer Blase bleiben und vielleicht auch Angst haben, dort herauszutreten, wie wirkt sich das auf die Situation aus?
Luthe: Ich würde von einem autokratischen System sprechen. Das merkt man eben auch schon daran, dass meine vielen Kollegen es noch nicht einmal für bemerkenswert halten, dass die Regierung nach wie vor nichts erklären kann.
Bis zum heutigen Tag waren die zahlreichen Verordnungen, die man sich zusammengebastelt hat, nicht möglich. Man hat in einer Weise in das Leben der Menschen eingegriffen, wie es bisher schlicht undenkbar war.
Auch in die Wirtschaft wurde in einer Art eingegriffen, wie es mit nur wenigen Ausnahmen – wie der große Sprung von Mao [Anm. d. Red.: Mao Zedung versuchte, mit einer Kampagne zwischen 1958 und 1961 den Weg zum totalen Kommunismus in China zu verkürzen und verursachte damit die schlimmste Hungerkatastrophe der Menschheit mit 45 Millionen Toten] – bisher nicht denkbar war.
Man versucht jetzt planwirtschaftlich alles Mögliche bis ins kleinste Detail zu regeln. Inklusive der Frage, ob die Kosmetikstudios aufmachen dürfen, wie sie aufmachen dürfen, welche Leistungen sie anbieten dürfen und ob sie dem Kunden dann auch einen Kaffee bringen dürfen.
Eine Regierung geht dorthin, beschäftigt sich mit einem solchen Quatsch, ist aber bis zum heutigen Tage nicht in der Lage zu sagen, weshalb man diese oder jene Regelungen trifft.
ET: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Luthe: Ich hatte gerade erst nachgefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen erotischen Massagen und medizinischen Massagen liegt – im infektionsmedizinischen Sinne. Die Antwort war: „Ein Unterschied? Den gibt's nicht.“ Die Begründung war, dass die [eine Massage] verboten ist und die andere eben nicht. „Es ist einfach so. Jetzt frag nicht weiter nach.“ Das ist zutiefst autokratisch.
Das widerspricht dem gesamten System, wie die freiheitlich demokratische Grundordnung es für unser Land mit guten und wichtigen historischen Gründen festgelegt hat. Die Regierung hat sich gegenüber dem Parlament zu rechtfertigen und das Parlament hat sich gegenüber dem Souverän, dem Bürger, zu rechtfertigen. Hier haben wir aber bereits eine Unterbrechung, denn die Regierung rechtfertigt sich nicht gegenüber dem Parlament.
Seit über einem Jahr frage ich: Was sind die Grundlagen der Senatsberatungen gewesen, wie man zum Ergebnis gekommen ist, eine Sauna zuzumachen? Warum können Sie in einem Bundesland Bücher kaufen und in dem anderen nicht?
Ich erwarte zumindest als Allererstes eine Erklärung, die man entweder nachvollziehen kann oder nicht. Aber nach 13 Monaten immer noch zu sagen: „Es ist so und warum, sage ich dir nicht – ist einfach peinlich.“
ET: Gestern bei der Demonstration in der Straße des 17. Juni war eine Fahrbahnrichtung frei, die andere war für Demonstranten abgesperrt. Der Polizeisprecher vor Ort gab dafür taktische Gründe an. Könnte der Grund daran liegen, dass man in unmittelbarer Nähe des Bundestages keine Menschenmengen zeigen wollte? Wie schätzen Sie die polizeiliche Einsatzstrategie ein?
Luthe: Also der Begriff der Polizei „aus taktischen Gründen“ ist sowas Ähnliches wie „for security reasons“. Das wird gerne gesagt, wenn sie keine vernünftige Begründung haben oder wissen, dass die Begründung, die sie nennen, sie in Teufels Küche bringen würde.
Wenn wir uns Demonstrationsgeschehen an anderen Stellen anschauen, beispielsweise die linksextremistischen Demonstrationen gegen den sogenannten Mietendeckel-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, haben wir knapp 12.000 Menschen ohne Abstände und teilweise Steine werfend durch die Stadt ziehen gesehen, polizeilich vollkommen unbehelligt.
Wenn wir dann auf der anderen Seite die Demonstration am 29. August 2020 anschauen: Die Polizei schaffte für die Demonstranten eine Sackgassensituation und führte sie hinein. Dann hielt sie den Versammlungszug an und ließ niemanden heraus. Wenn sie dann darüber klagen, dass die Leute sogenannte Sicherheitsabstände nicht einhalten, dann ist es in höchstem Maße polizeilich fragwürdig.
Das stellt das Vertrauen in die Polizei, in den Rechtsstaat, in das saubere Agieren unseres Staates ganz massiv infrage. Und dann sind wir eher bei einem Sicherheits- und polizeilichen Verständnis der DDR.
ET: Die Polizisten machen ihren Job und die Einsätze werden von Beamten entschieden. Doch wie kommen diese Entscheidungen zustande?
Luthe: Das ist gerade das Perfide an dieser ganzen Situation. Der einzelne Polizeibeamte, der am Ende irgendwo steht, der weiß noch nicht einmal genau, warum er da steht. Er bekommt eine entsprechende Weisung, muss da stehen und will vielleicht gar nicht dort stehen, hat aber herzlich wenig Möglichkeiten als Polizeivollzugsbeamter. Er wird wiederum von Bürgern angegriffen, teilweise verbal, aber auch körperlich.
Damit wird eine Situation geschaffen, in der die Polizei nicht mehr „dein Freund und Helfer“ ist. Sie hetzt gezielt unsere Polizei und unsere Bürger gegeneinander. Und das ist genau, was sie auch bei dem Mietendeckel in Berlin gemacht haben: das Aufeinanderhetzen von Vermietern und Mietern.
Das haben sie in Berlin im Verkehr gemacht, in dem Fahrradfahrer, Fußgänger und Autofahrer gegeneinander aufgehetzt werden. Das wird besonders in Bereichen umgesetzt, wo Grün, Rot und Rot die Politik macht. Sie spalten und wollen es nicht einsehen.
Das ist genau dieser Interessenausgleich, der nötig ist in der Demokratie. [Helmut] Schmidt hat es richtig gesagt: „Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.“ Den finden die Kollegen hier nicht, weil sie ihn gezielt nicht wollen, weil sie davon leben, Konflikte herbeizuführen, wo eigentlich keine notwendig sind.
Das Gespräch führte Alexander Zwieschowski.
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