Viele Menschen nehmen wahr, dass es eine Spaltung in der Gesellschaft, einen Spalt in der Familie oder auch auf der Arbeit gibt. Schnell kommt es dann zu Konflikten und Streit. Emotionen kochen hoch, Wut und Angst gewinnen die Oberhand. Wie kann man dem begegnen, sodass mehr miteinander statt übereinander geredet wird? Im Gespräch mit Epoch Times erklärt die Psychotherapeutin Kai und der Rechtsanwalt und Mediator Tobias Pörsel, wie man trotz Differenzen wieder näher zueinanderfindet.
Epoch Times: Kai, wie kann man aus psychologischer Sicht zwei verhärtete Fronten wieder zueinander bringen?
Kai: Also grundsätzlich, auch wenn ich vor Corona mit strittigen Paaren gearbeitet habe, finde ich es gut, diese Annahme zu haben: Wir müssen uns nicht auf eine Wirklichkeitskonstruktion einigen. Sondern ich kann aus meiner Wirklichkeit heraus berichten. Du hörst bestenfalls mit größtmöglicher Neugier zu und interessierst dich dafür, wie meine Welt aussieht und umgekehrt.
Also, dass wir nicht versuchen, auf so eine rechthaberische Art und Weise am Ende des Tages zu sagen: „Aber so ist es doch wirklich!“ Sondern einander wertschätzend, mit größtmöglicher Neugier und Interesse einander zuzuhören. Auch wenn man manchmal schlucken muss, wenn man es selber anders sieht. Und auch wenn es sich anfühlt wie „ich habe doch recht!“ Das bringt einen nicht weiter.
Besser ist zu hinterfragen: Wie ist deine Lebenswirklichkeit? Wie macht dein Verhalten und Erleben aus deinem Kontext heraus Sinn? Wenn man das schafft, ist, glaube ich, viel gewonnen.
ET: Herr Pörsel, gibt es eine Vorgehensweise, mit der Sie als Mediator der deutschen Gesellschaft helfen würden?
Pörsel: Ein Instrument, was ich gerne verwende, ist das der gewaltfreien Kommunikation. Das klingt vielleicht ein wenig abgehoben. Jeder versteht unter gewaltfreier Kommunikation etwas anderes. Doch im Kern ist es eine Haltung, die ich einnehme. Und wie Kai eben schon gesagt hat, geht es im ersten Schritt darum, sich klarzumachen, ich kann mich auch irren. Wir spielen gerne dieses Spiel „ich habe recht“.
Ich stelle mal diesen Gedanken hintenan, dass ich hundertprozentig recht habe. Ich höre mir jetzt mal an, was der andere zu sagen hat. Dabei versuche ich wirklich, den anderen zu verstehen, mit der Absicht, auch dazuzulernen. Das klingt jetzt schön wie aus dem Lehrbuch und ich weiß, dass es in der Praxis extrem schwer ist. Aber es hilft, sich dieses Bewusstsein zu schaffen: Kann ich hundertprozentig sicher sein, dass meine Meinung stimmt? Kann ich hundertprozentig sicher sein, dass ich recht habe? Dieser erste gedankliche Schritt ist auch in einer Mediation in Unternehmen immer ein entscheidender Weg. Das kann man auf alle Bereiche übertragen.
Auch Führungskräfte sind bei schwierigen Situationen mit Angestellten erst mal aufgefordert, den Sachverhalt zu klären. Wir müssen uns erst mal darüber verständigen, was ist und was nicht. Oder was vermuten wir nur, was interpretieren wir? Da passieren häufig die meisten Missverständnisse und da gilt es anzusetzen.
Kai: Selbst wenn ich ganz klar damit assoziiert bin, dass ich recht habe, ist das für einen Dialog nicht unbedingt ein hilfreicher Fokus. Das heißt, wenn ich das meine, was ist dann gewonnen? Dann habe ich wenig vom Gegenüber verstanden.
Ich hatte zum Beispiel kürzlich ein sehr konstruktives Gespräch mit einem Kollegen, der anderer Meinung war. Wir haben von vornherein gesagt, wir versuchen uns gar nicht zu überzeugen. Wir versuchen mehr von der Wirklichkeit der anderen Person zu verstehen. Das war super. Hinterher haben wir beide viel mehr verstanden.
Pörsel: Es gibt einen Leitsatz, den ich extrem hilfreich finde, und das ist gleichzeitig extrem schwer umzusetzen: Höre nicht auf die Worte, sondern auf die Gefühle und die Bedürfnisse des anderen dahinter. Denn was macht Konfliktlösung so schwer? Viele sagen ja, man muss Konflikte sachlich lösen. Das sehe ich anders.
Ich löse Konflikte nicht sachlich, denn Konflikte eskalieren aufgrund von Emotionen und Gefühlen. Im Moment erleben wir ja massive Ströme von Energien wie Wut und Angst. Und es wäre, glaube ich, hilfreich, wenn wir uns alle mal fragen: Was sind denn da für Gefühle in uns? Wie viel Wut ist denn da? Wie viel Angst ist da und was befürchte ich eigentlich? Ein weiterer Ansatzpunkt ist mal zu sagen: Okay, also ich bin echt stinksauer. Und dann kann man mal suchen, was dahinter stecken könnte.
Meine Vermutung ist, wenn man das auf diese [Corona-] Lager mal reduziert: Auf beiden Seiten herrscht Angst. Angst vor der Impfung, Angst ohne Impfung. Angst vor Corona, Angst davor, die Grundrechte nie wieder zu bekommen. Es dreht sich immer um die Emotion Angst. Ich glaube, das ist ein Anhaltspunkt oder ein Schlüssel, um schrittweise voranzukommen.
ET: Es ist schwierig, aus einer Emotion herauszutreten. Wie kann das funktionieren, wenn ich selber große Angst habe?
Kai: Wenn wir blank liegende Nerven oder wunde Punkte haben, gehen wir in eine Art geschützten Modus. Es kann sehr vielfältig aussehen, aber im Grunde genommen hat es eine der Strömungen: Kämpfen, fliehen oder sich tot stellen.
Ich weiß zum Beispiel über mich, dass ich eine Kämpferin bin, wenn ich getroffen werde. Dem stelle ich meinem Gegenüber etwas entgegen, was sehr eindrücklich ist. Ich fühle mich dahinter aber wie eine kleine Wurst. Das muss man ja erst mal verstehen. Das heißt, es ist gut so etwas über sich selber zu wissen. Also, was ist eigentlich dahinter verborgen? Was fühlt ein Mensch, der gerade ängstlich ist?
Pörsel: Aus meiner Sicht dürfen wir uns damit anfreunden, das trainieren zu dürfen. Es gibt einen Moment, bevor wir Gefühle haben. Da gibt es diese von Kai beschriebenen Automatismen wie die der Kämpferin. Das heißt, wir reden auf eine bestimmte Art und Weise und dann geht es extrem schnell. Der erste Schritt ist zu trainieren, sich über diese Mechanismen, über diesen Auslöser erst mal klar zu werden. Dann gibt es einen kleinen Moment, wo ich zum Beispiel merke: „Jetzt kocht es bei mir über“.
Wenn es mir da gelingt, im wahrsten Sinne des Wortes, dann habe ich schon einen ganz, ganz entscheidenden Schritt getan. Das gelingt mir gerade bei hochemotionalen Themen auch nicht immer. Das ist also nichts, was ich einmal im Buch gelesen habe und dann funktioniert das. Es benötigt Training.
Wenn ich merke, gleich knallt's und ich merke, es kocht in mir hoch, kann ich im Zweifelsfall einfach mal rausgehen und sagen „ich muss jetzt erst mal raus“. Und dann diese Emotionen auch mal da sein lassen. Wir versuchen ja teilweise diese Dinge dann wegzudrücken. Doch je mehr wir einer Sache, einer Wut, einer Traurigkeit oder einem Frust Energie schenken, umso größer wird diese Sache.
ET: Also zusammengefasst: sich selbst besser kennenlernen und seine Emotionen und Mechanismen bewusst wahrnehmen?
Kai: Ja, absolut. Dadurch kann man auch merken: Ich bin jetzt gerade in meinem roten Bereich. Das merken wir gar nicht automatisch. Wir sind total damit identifiziert oder assoziiert. Wenn ich mehr über mich weiß, dann kann ich anhand dessen auch bemerken, dass ich mich in meinem Hoch-Stressbereich befinde und da bin ich vielleicht nicht auf der Höhe meiner geistigen Fähigkeiten. Jetzt atme ich mal durch. Wo finde ich die Lücke, wo kann ich aus meinem Muster aussteigen? Vielleicht eine Runde um den Block gehen und dann wieder mit einer anderen Haltung eintreten. Weil eigentlich will ich dich ja verstehen.
Pörsel: Und noch mal: Das ist Training. Ich glaube, wir dürfen auch barmherzig mit uns sein. Jetzt hört sich das toll und schlüssig an. Dann probiert man es aus und stellt fest, dass es nicht klappt und dann lässt man es sein. Nein, genau dann weiter machen, immer und immer wieder trainieren.
Ich lerne ja auch kein Musikinstrument, nur weil ich ein Buch darüber gelesen habe. Sondern ich darf täglich trainieren. Der erste Schritt ist zu trainieren, mir darüber bewusst zu werden: Wann kommt bei mir der Punkt, wo Emotionen ausgelöst werden? Wenn ich den erwische und das trainiere, dann kommt der zweite Schritt.
Kai: Genau. Und was mir hilft, mich abzuregen, ist auch sehr individuell. Da ist es auch gut, wenn ich das über mich weiß oder wenn ich es in einem Dialog entwickeln kann. Das ist auch etwas, was man sich jetzt nach diesem Interview mal über sich selbst fragen kann. Oder man bespricht es mal mit dem Partner oder der Partnerin und holt sich einen Spiegel ein.
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