Manfred Nowak: „Massive Repressionswelle“ an Uiguren

Situation in Xinjiang wie in Tibet vor Olympischen Spielen – Kritik am EU-China-Dialog – Friedensnobelpreis für Gao Zhisheng und Hu Jia begrüßenswert – Falun Gong seit Beginn der Verfolgung „nicht kleiner, sondern größer“ geworden
Titelbild
Der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Dr. Manfred Nowak. (Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images)
Epoch Times22. Juli 2009

Von einer „massiven Repressionswelle“ an Uiguren spricht der UNO-Sonderbeauftragte für Folter, Professor Manfred Nowak. Er vergleicht im Interview mit der Epoch Times die Geschehnisse in Xinjiang mit jenen in Tibet vor den Olympischen Spielen und übt Kritik am EU-China-Dialog. Seinem chinesischen Kollegen Gao Zhisheng sowie dem Bürgerrechtler und Sacharow-Preisträger Hu Jia würde er den Friedensnobelpreis von Herzen gönnen. Und zur Situation von Falun Gong in China zehn Jahre nach dem Beginn der Verfolgung meint Nowak, dass die Zahl der Falun Gong-Anhänger „nicht kleiner, sondern größer geworden ist“.

Epoch Times: Wie stellt sich für Sie die Lage in der Region Xinjiang und der Hauptstadt Urumqi dar?

Manfred Nowak: Das war schon eine massive Repressionswelle. Natürlich muss man auf der anderen Seite sagen, dass es in Xinjiang eine stärkere separatistische Bewegung gibt als in Tibet. Es gibt auch Terroranschläge, die wir in Tibet nicht gesehen haben, und einen klaren Aufruf, dass Xinjiang sich von China loslösen sollte. Insofern ist der Separatismusvorwurf bis zu einem gewissen Grade berechtigter als in Tibet.

Auf der anderen Seite wird mit dem Vorwurf dann sehr schnell jeder konfrontiert, der dort demonstriert oder generell zu dem Umfeld von Uiguren, Muslimen und so weiter gehört. Die werden einfach pauschal verdächtigt beziehungsweise unterdrückt. Und die Tatsache, dass die chinesischen Behörden es wirklich sehr schwierig gemacht haben, international Informationen hinauszubringen, und dies auch für Journalisten sehr, sehr schwierig war, zeigt die Nervosität der chinesischen Behörden. Das ist durchaus mit den Geschehnissen in Tibet vor den Olympischen Spielen vergleichbar.

Epoch Times: Die Sprecherin des Weltkongresses der Uiguren, Rebiya Kadeer, sagt, dass die Han-Chinesen selbst „Opfer der brutalen Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas“ sind. Sie nennt Urumqi ein „Konzentrationslager für Uiguren“.

Nowak: Es ist für Frau Kadeer sogar schwierig, genaue Informationen über ihre eigenen Söhne zu bekommen.

Epoch Times: Zwei ihrer Söhne sind in der Xinjiang-Region im Gefängnis, und auch von drei weiteren, die noch in Xinjiang leben, weiß sie seit Beginn der Unruhen am 5. Juli nicht, was mit ihnen geschehen ist.

Nowak: Das spricht allein schon für sich.

Epoch Times: Hat sich in China seit den Olympischen Spielen auf dem Menschenrechtssektor denn auch irgendetwas verbessert?

Nowak: Nicht wirklich, nein. Das, was viele gehofft hatten, dass sich die Lage aufgrund der Olympischen Spiele oder zumindest danach wieder entspannen würde – das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, in Xinjiang ist es massiv eskaliert.

Epoch Times: Was kann die UNO überhaupt noch tun?

Nowak: Es ist irrsinnig schwierig. Der Menschenrechtsrat in Genf ist relativ schwach, und China spielt dort eine starke Rolle. Der EU-China-Dialog stagniert wirklich. Die Chinesen diktieren im wesentlichen der EU die Bedingungen.

Der EU-China-Dialog war eine Alternative zur Konfrontationspolitik der 1990er Jahre. Er hat sich nicht wirklich bewährt, da wir gedacht haben, dass im Rahmen des EU-China-Dialogs zumindest auf der rechtlichen Ebene sehr große Fortschritte kommen. Es ist ein bisschen etwas gekommen, aber in den letzten Jahren stagniert es. Ich sehe es im Moment sicher nicht besser werden, sondern in vielfacher Weise sogar eine gewisse Eskalation.

Epoch Times: Sie waren ja schon einmal in Ihrer Funktion als UNO-Sonderbeauftragter für Folter 2005 in Peking, haben damals auch Arbeitslager besucht und mit Anhängern der Falun Gong-Bewegung gesprochen. Am 20. Juli war der zehnte Jahrestag des Beginns der Verfolgung von Falun Gong in China. Hat sich bezüglich der Situation in China etwas Neues ergeben?

Nowak: Nichts dramatisch Anderes. Ich bekomme natürlich immer wieder Beschwerden von Falun Gong-Anhängern, die ich auch an die chinesische Regierung weiterleite, nur kann man nicht sagen, die Anzahl an Beschwerden ist viel größer geworden, aber auch nicht, die Situation hat sich wesentlich verbessert. Ich würde sagen, sie ist ungefähr gleich geblieben.

Epoch Times: Wie schätzen Sie die Anzahl oder den Prozentsatz der Falun Gong-Praktizierenden an den gesamten Lagerinsassen in China ein?

Nowak: Sie meinen jetzt nur die Umerziehungslager, Re-education Through Labor?

Epoch Times: Genau.

Nowak: Das ist schwer zu sagen, da wir keine genauen Statistiken über die genaue Anzahl haben. Ich kann nicht sagen, ob sich die Lage verändert hat, seit ich in China war. Aber ich habe keinerlei Hinweise darauf, dass sich die Situation dramatisch verbessert hätte.

Ein Großteil der Personen in den Umerziehungslagern waren Falun Gong-Anhänger, und das ist auch das wirklich Erschreckende, da die Leute nie vor ein Gericht gestellt wurden. Sie wurden nicht angeklagt, weil es ja heißt, Falun Gong sei eine Organisation, die so ähnlich wie die Demokratiebewegung die Autorität der Chinesischen Kommunistischen Partei untergräbt.

Dafür gäbe es im chinesischen Strafrecht konkrete Strafrichtlinien, mit denen man auch gegen die Demokratiebewegung vorgeht. Das hat man bei Falun Gong aber nur in den seltensten Fällen gemacht, sondern man bedient sich der re-education through labor camps. So wie bei Prostituierten oder für „sozial schädliches Verhalten“. Das sind die Leute, die in den Arbeitslagern umerzogen werden. Man kann sagen, dass ein relativ großer Teil der Personen in diesen Lagern Falun Gong-Anhänger sind. Das ist sicher eine der stärksten Gruppen.

Epoch Times: Wie beurteilen Sie die Anschuldigungen des Organraubs an lebenden Falun Gong-Praktizierenden aus heutiger Sicht?

Manfred Nowak: Bezüglich der Frage des Organraubs besteht noch Aufklärungsbedarf seitens der chinesischen Regierung. Es steht die Frage zur Klärung, wie es möglich war, dass parallel seit 1999 die Anzahl der Organtransplantationen in chinesischen Spitälern massiv gestiegen ist, es gleichzeitig aber nicht so viele freiwillige Spender gibt.

Die Erklärung dass die meisten dieser Organe von Personen kommen, die zum Tode verurteilt wurden, ist nicht wirklich schlüssig. Denn dann müsste die Zahl der Vollstreckungen von Todesurteilen viel höher sein als bisher angenommen. Und auch da habe ich die chinesische Regierung ersucht, genaue Daten zu geben. Da seit 2007 alle Todesurteile in letzter Instanz vom Obersten Volksgerichtshof überprüft werden müssen, wäre es viel leichter zu sagen: Das ist die genaue Zahl von Vollstreckungen. Dann kann man hochrechnen, ob das stimmen kann, und woher die anderen kommen. Diese Informationen hat die chinesische Regierung nicht zur Verfügung gestellt.

Epoch Times: Die Anschuldigungen sind also weiterhin aufrecht?

Nowak: Die Anschuldigungen sind weiterhin da. Sie sind zwar dementiert, aber nicht wirklich entkräftet von der chinesischen Regierung, umgekehrt aber auch nicht wirklich bewiesen. Das ist ein bisschen eine schwierige Situation, in der man nur in Zusammenarbeit mit China wirklich weiterkommen kann – und da mangelt es momentan.

Epoch Times: Laut offiziellen Schätzungen waren es mehr als 80 Millionen Menschen, die Falun Gong vor dem Beginn der Verfolgung 1999 praktiziert haben. Wie schätzen Sie es ein, wie viele von diesen Praktizierenden gibt es noch in China?

Nowak: Es ist eine sehr große Gruppe von Menschen, die auch durch die Verfolgung nicht kleiner geworden ist, sondern größer.

So, wie es meistens bei Verfolgungen ist, hat sie natürlich einen Solidarisierungseffekt, und die Organisation ist weiter stark. Das ist keine Frage. Da müssen sie bei Falun Gong nachfragen, was die Schätzungen sind, wie groß die Anzahl von Falun Gong-Anhängern derzeit in China ist.

Epoch Times: Dort schätzt man die Anzahl gleich groß ein wie zu Beginn der Verfolgung, so wie Sie es auch sagen. Das heißt, es müsste eigentlich in China noch mehr als 80 Millionen Menschen geben, die, ob sie es öffentlich tun oder nicht, Falun Gong ausüben. Selbst für China eine recht beachtliche Zahl.

Nowak: Ja, das ist keine Frage.

Epoch Times: In einer Dokumentation des Satellitensenders NTDTV wird die Verfolgung von Falun Gong als „Hidden Holocaust“, als versteckter Holocaust bezeichnet.

Nowak: Völkermord hat einen ganz spezifischen Hintergrund, da geht es um ethnische, rassistische, rassische oder religiöse Diskriminierungen, man kann in diesem Fall auch sagen religiös, aber es ist kein völkischer Völkermord wie bei den Nazis. Holocaust ist auch etwas Unvergleichbares. Ich würde mit diesen Vergleichen sehr, sehr vorsichtig sein. Der Völkermord an den Juden ist schon von der Quantität her, aber auch von der Art und Weise der wirklich industriellen Vernichtung von Menschen einzigartig in der Geschichte. Da würde ich mit Vergleichen sehr vorsichtig sein.

Auf der anderen Seite ist es eine systematische Repression gegen eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen aus politisch/religiösen Gründen, wobei die chinesische Führung ja immer abstreitet, dass es sich hier um eine Religion handeln soll.

Epoch Times: Sie haben den Menschenrechtsanwalt Gao Zhisheng angesprochen. Seine in die USA geflüchtete Frau Geng He sprach anlässlich des zehnten Jahrestags der Verfolgung von Falun Gong vor dem Kapitol in Washington D.C. Gibt es bezüglich des Verbleibs ihres Mannes Neuigkeiten?

Nowak: Das letzte war, dass seine Frau auf abenteuerliche Art und Weise mit der Tochter letztlich flüchten konnte. Sie ist nach Thailand geflüchtet. Dann – der Druck auf die thailändische Regierung war enorm groß, sie wieder zurückzuschicken – ist es ihnen durch massive Intervention der Vereinigten Staaten und auch der Europäischen Union gelungen, nach Amerika auszureisen. Das hat natürlich die Situation von Gao noch brisanter gemacht. Meine letzten Kontakte waren noch vor dieser Flucht. Wir fürchten, dass er aufgrund der Flucht seiner Frau massiv unter Druck steht.

Epoch Times: Können Sie bestätigen, dass er Opfer von Folterung geworden ist?

Nowak: Ja. Wir haben klare Aussagen, glaubwürdige Aussagen, dass er massiv gefoltert wurde.

Und dann auch wieder freigelassen beziehungsweise im Hausarrest war. Aber jetzt in der jüngsten Zeit, wann war das genau, September 2007, diese massiven Folterungen, die er ja auch in dem Brief, der veröffentlicht wurde, genau darstellt. Und die sind für mich sehr, sehr glaubwürdig. Ich habe auch wiederum in jüngster Zeit nochmals zu seinen Gunsten interveniert und versucht, die chinesische Führung dazu zu bringen, ihn ausreisen zu lassen, aber das sieht derzeit nicht sehr gut aus.

Epoch Times: Kann man sagen, welche Gründe dabei angeführt werden?

Nowak: Nein. Ihm wird natürlich vorgeworfen, dass er als Menschenrechtsverteidiger falsche Aussagen über die Menschenrechte in China gemacht hat, also die klassischen Vorwürfe, die man diesen Leuten macht. Zu den Foltervorwürfen direkt hat die chinesische Regierung nicht Stellung genommen. Sie wurden weder konkret dementiert, noch bestätigt.

Epoch Times: Der im Vorfeld der Olympischen Spiele inhaftierte Hu Jia ist ein Freund von Gao, er wurde 2009 – nachdem er ihn 2008 nicht bekommen hatte – erneut für den Friedensnobelpreis nominiert.

Nowak: Ich würde in beiden Fällen sehr begrüßen, wenn sie den Friedensnobelpreis bekommen. Beide sind sehr couragierte Personen, die in einer Situation zunehmender Repression vor den Olympischen Spielen weiterhin offen waren, für Menschenrechte einzutreten. Beide Personen haben ganz sicherlich den Friedensnobelpreis verdient.

Epoch Times: Also, Sie würden sich freuen, wenn einer von den beiden den Friedensnobelpreis bekommt?

Nowak: Ja. Oder auch beide.

Das Interview führte Florian Godovits.



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