Kein Schrei ist zu hören
Elf Kurzgeschichten, veröffentlicht im April 2005, präsentiert uns die seit fünfzehn Jahren in Berlin lebende chinesische Schriftstellerin Luo Lingyuan.
„China, meine Heimat, mein vertrautes Land“ dieser Satz auf der Rückseite des DTV-Bandes machte mich neugierig; auch die Äußerung, dass dieses Land sie auch heute noch so unruhig macht….
Beim Lesen wird mir spätestens nach der dritten Geschichte deutlich, was diese Unruhe auslöst: Diese Essays schildern mit Präzision den chinesischen Alltag, der von der kommunistischen Parteikultur geprägt ist und dem einzelnen keine Freiheit des Denkens und Handelns, ja, selten eine Nische für sein privates Glück lässt.
Beim Lesen stockt mir der Atem.
Da wird in der Titelgeschichte ein Bauer auf dem Lande belagert, er solle seine schwangere Frau herausgeben. Sie ist zum dritten Mal schwanger, die Familie hat bereits zwei Töchter und möchte so gerne einen Sohn, – das ist nicht erlaubt und nun droht ihr eine Zwangsabtreibung im sechsten Monat. Es gelingt dem Mann, seine Frau zu verstecken. Im eigenen Haus gibt es eine unsichtbare Kammer… Der argwöhnische Genosse von der Familienplanungskommission lässt jedoch nicht locker. Langsam rückt die Bedrohung unerträglich nahe. Bis eines Tages ein Bulldozer das ganze Haus niederwalzt. Die Trümmer begraben seinen alten Vater, seine Frau und seinen soeben neugeborenen Jungen. Mit Schaudern lese ich weiter und erfahre von den Racheakten des Familienvaters: Er verschafft sich Zugang zum Verwaltungsgebäude, in dem der Täter sein Amt ausübt und wirft ihn und zwei Augenzeugen aus dem Fenster. Dies bleibt nicht ohne Folgen: Schon am Gebäudeausgang wird der Rächer von Wachsoldaten brutal überwältigt. Die Geschichte und damit das ganze Buch endet mit dem bedeutungsvollen Satz „kein Schrei ist zu hören“.
Vielleicht ist dies die zentrale Aussage des ganzen Buches: Leise und unauffällig kommt es daher und enthüllt Geschichten aus dem modernen China; wir werden Zeugen von Lieblosigkeit, Hass, ungesühnten Verbrechen, körperlicher und seelischer Verwahrlosung, Prostitution, Missbrauch, Verfolgung, Korruption und unsäglicher Armut, – aber kein Schrei ist zu hören, alles geschieht lautlos und fast unbemerkt; Hoffnungslosigkeit macht sich breit.
Hier entfaltet sich die gesamte innere Logik eines Polizeistaates, in dem jeder, der sich nicht blindlings den rigiden Regeln des Systems unterwirft, zum Opfer wird. Wenn das Material auch die Qualität einer Kriminalgeschichte hat, so komme ich als die Leserin doch keinen Augenblick lang in Versuchung, an der Realitätstreue des Stoffes zu zweifeln. Die fast penetrant sachliche, seelenlose Art der Darstellung, die keinerlei Hoffnung auf Besserung oder Wendung zum Guten zulässt, bringt den Leser in Versuchung, das Buch aus der Hand zu legen. Dieses Buch ist kein Aufschrei, wie man es sich erhoffen würde, sondern eine fast qualvolle Direktaufnahme der Leiden des chinesischen Volkes.
Dennoch ist es das Verdienst der Autorin Luo, dem deutschen Leser ein sehr genaues Bild der inneren Situation Chinas zu vermitteln, und das in einer Zeit, in der die ganze Welt zu diesem riesigen Land aufschaut und mit Staunen wahrnimmt, welches wirtschaftliche Potential sich dort befindet und mit welcher Geschwindigkeit China sich hocharbeitet zu einer Weltwirtschaftsmacht.
So gesehen ist dieses Buch ein Buch der Enthüllung: Es veranschaulicht die Aussagen in den „Neun Kommentaren über die Kommunistische Partei“, der Artikelserie über die Kommunistische Partei Chinas seit ihrer Entstehung und deren beispiellose Versuche, die Ideologie an ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten.
Empfehlen möchte ich dies Buch allen, die mit China in Kontakt stehen: Journalisten, Wirtschaftsfachleuten, Politikern, Sinologen, aber auch Touristen. Wir sollten uns nicht scheuen, auch diese Seite eines großen und wunderbaren Landes anzusehen.
Luo Lingyuan: Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock! DTV premium. 14,-€
ISBN 3-423-24451-8
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