Klassische Poesie für das moderne Leben

Was uns William Shakespeares „Kaufmann von Venedig” bis heute lehrt
Titelbild
(artrenewal.org)
Von 27. Juli 2009

Die Natur des Vergebens

Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang.
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt;
Am mächtigsten in Mächtgen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone.
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würde und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Könige sitzt.
Doch Gnade ist über dieses Zepters Schwingen,
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und irdische Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade das Recht bereichert.

(Portia)

Was ist die Natur des Vergebens? In dem Auszug aus „Der Kaufmann von Venedig“ versucht Lady Portia (als Anwalt verkleidet) den Geldverleiher Shylock davon abzubringen, vom Kaufmann Antonio ein Pfund Fleisch [aus dessen Körper] einzufordern. Shylock hätte ein Recht darauf, denn der Kaufmann Antonio ist nicht in der Lage, eine Leihgabe von dreitausend Dukaten zurück zu geben, die auf seinen Namen verbrieft ist. Es steht viel auf dem Spiel und Antonio ist nur einen Moment vom Tode entfernt. Trotzdem müsse Shylock Gnade zeigen, meint Portia. „Aus welchem Zwang heraus muss ich das?“, verlangt er zu wissen.

Da antwortet Portia: „Die Natur der Gnade ist nicht angestrengt […]”. Damit meint sie, dass es in Wirklichkeit keinen Zwang gibt, der Shylock dazu bringen könnte, zu vergeben. Gnade ist ein Begriff, der sich über Mitgefühl, Wohlwollen und Nachsicht erstreckt. Er kann nur von innen kommen.

Das Wort „angestrengt” trägt jedoch auch andere Bedeutungen. Der erste Gedanke könnte sein, dass Portia meint, dass das Vergeben nicht so schwer sei wie man denkt. Im Ganzen betrachtet ist es viel schwieriger, an Hass festzuhalten, als ihn loszulassen. Aber wenn wir ihn loslassen, fühlen wir keine Demütigung, sondern Erleichterung.

Die anmutige Metapher des „sanften Regens”, der „vom Himmel fällt“, ruft eine stille, intensive Atmosphäre des Entzückens und der Erleichterung hervor. Diese Worte laut sagend, möchte man fast sein Haupt erheben, um diese kühlenden Tropfen aus dem Himmel zu spüren. Sie sind in sich selbst ein Segen, der uns von der Bitterkeit der Vergangenheit befreit.

In dem Stück verlangt Shylock selbst nach Mitgefühl. Als Jude schimpft er auf den Antisemitismus seiner Nachbarn. (Der Mann, dem zu vergeben er aufgefordert wird, hatte ihn einen „irrgläubigen, Halsabschneider, Hund” genannt und ihn auf offener Straße bespuckt.) In seiner berühmten Rede sagt er: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir denn nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir denn nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir dann nicht?” Bis heute verbleiben diese Worte als eines der unmittelbarsten, stärksten und sensibelsten Statements gegen die Dummheit des Rassismus – dem Glauben, wir alle würden einer gemeinsamen Menschlichkeit entbehren.

Shylock sagt weiter: „Und wenn ihr uns Unrecht tut, sollen wir uns nicht rächen?“ Das erscheint als Recht. Ist ein Versagen, eine Strafe zu beschließen, nicht ein Versagen der Justiz? Portia argumentiert stattdessen, dass Vergebung nicht bedeutet, sich selbst seinem Feind zu opfern; sie ist ein Akt im eigenen Interesse, weil sie einen „segnet”, genauso wie auch denjenigen, dem man vergibt. Aus dieser Sicht gesehen würde man sein eigenes Leben verfluchen, wenn man das Leben eines anderen verflucht.

Vergebung gehört zu den „mächtigsten“ Dingen, die ein Mensch tun kann; sie ist weit davon entfernt, ein Zeichen von Schwäche zu sein. Um dies darzustellen, bedient sie sich der Metapher eines Königs auf seinem Thron, seine Krone tragend und sein Zepter packend. Dies ist das Bild eines Mannes mit Allmacht.

Des Königs „irdische” Macht wird durch Gewalt aufrechterhalten. Seine [Attribute] „Ehrfurcht gebietend und majestätisch” können sich schnell zu „Angst und Furcht” wandeln. Die Geschichte zeigt, wie leicht ein König zu einem terrorisierenden Despoten werden oder sogar sein Leben verlieren kann. Seine Autorität existiert nur temporär – sie ist so flüchtig wie der Tag.

Gnade steht in Verbindung zu dem, was immerwährend ist. Sie hat mit dem Göttlichen zu tun. Sie steht über dem „Schwingen” des Zepters der Monarchie oder Regierung. Das Wort „Schwenken“ ist ein Begriff, der seinen Pomp und sein Unvermögen einfängt – wie beispielsweise unter dem Schwingen des Zepters durch einen charismatischen, jedoch korrupten Verbündeten. Das „Schwenken” deutet hier auch auf die zwieträchtige Bedeutung dieses Wortes, wie ein Turm, der kurz vor dem Fall ist. Um also anzudauern, muss jede irdische Macht dem Herzen treu bleiben – treu zu unserer Fähigkeit des Mitgefühls, die auch einen Funken von himmlischer Barmherzigkeit zeigt.

Der letzte Satz des Ausschnittes ist sowohl einfach als auch doppeldeutig. Dass die Gnade die Gerechtigkeit bereichert, dient hier auch zur Milderung dieses Extrems. Sie hilft uns, einen goldenen Mittelweg der Moralität zu finden, einen Mittelweg, der das Bedürfnis eines universellen Kodex von Gerechtigkeit mit Rücksichtnahme auf das Individuum ausbalanciert. Das Wort „bereichert” knüpft auch eine Verbindung zur Metapher vom fallenden Regen im zweiten Vers des Ausschnitts. Auf dieselbe Weise, wie der Regen das Land fruchtbar macht, bereichert die Gnade die Justiz. Zusammenfassend kann man feststellen, dass ohne Gnade das Gesetz Tyrannei wäre; ohne Gesetz jedoch würde blinde Gnade unweigerlich zum moralischen Selbstmord führen.

Hört Shylock zu? Nein. Als Antwort verlangt er die Erfüllung der versprochenen Strafe. Aber bevor wir ihn verdammen, sollte man sich die Frage stellen, ob man es an seiner Stelle besser gemacht hätte. Welcher Hass ist es, an dem man selbst festhält? Welche Akte der Gnade enthält man selbst anderen vor – und schlussendlich sich selbst?

William Shakespeare (1564 –1616) war ein Englischer Poet und Dramatiker und wird oft als der größte Autor in der Englischen Sprache dargestellt.

Erschienen in The Epoch Times Deutschland Nr. 27/09

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