Auf die Finger geschaut – Von der Werktreue großer Pianisten

Titelbild
Cord Garben, Pianist, Liedbegleiter und DirigentFoto: Roland R. Ropers

In seinem Buch „Auf die Finger geschaut – Von der Werktreue großer Pianisten“  geht Cord Garben der Frage nach, wie die berühmtesten Pianisten mit dem Notentext umgehen. Dabei deckt er spannungsreich auf, dass die Werktreue der Künstler oftmals nur so weit reicht, wie ihre eigenen „Kreise“ aus technischer Machbarkeit und Intuition nicht gestört werden.

Cord Garben schreibt dazu: Müssen wir zum Verständnis der Werke Schuberts geklärt haben, ob er homosexuell war? Liegt der Schlüssel zur Welt der Préludes von Frédéric Chopin im Wissen um das private Debakel seiner Beziehung zur dominanten George Sand? Nein, das alles müssen wir nicht wissen. Aber dennoch fühle ich mich veranlasst, den Leser hier und dort aus der Beschäftigung mit Punktierungen und Phrasierungen heraus zu bitten, um daran zu erinnern, dass sie Komponisten von Fleisch und Blut waren, Alltagssorgen hatten und um das kleine und große Glück rangen wie alle Menschen. Denn erst der Blick hinter die Kulissen wird den Musikfreund in seiner Begegnung mit den Werken veranlassen, sich den schönen Stücken nicht ausschließlich im Wohlfühlmodus hinzugeben. 

So ist es möglich, dass Krystian Zimerman die Schubert-Impromptus objektiv „am richtigsten“ spielt und doch jeder Befragte das „falsche“ Spiel Edwin Fischers vorzieht. Und wenn das Publikum Grigory Sokolov für seine kultische Interpretation der Chopin-Préludes zu Füßen liegt und der Autor ganz emotionslos festzustellen hat, dass diese Darbietung mit der niedergelegten Vorstellung des Komponisten kaum noch Gemeinsames hat. Was dann?

Die Werkauswahl meiner Betrachtungen stützt sich, mit Ausnahme von Bachs Wohltemperiertem Klavier und der großen Sonaten Beethovens auf kleinere Charakterstücke. Sie sind es, die dem Interpreten hohe Anschlagskultur und strukturelle Übersicht abverlangen. An ihnen lässt sich oft nach wenigen Minuten erkennen, ob Beliebigkeit, Gleichgültigkeit oder gar Arroganz gegenüber der Aussage des Komponisten die Darbietung bestimmen“.

[–Historischer Protest gegen die Etüden von Frédéric Chopin–]

Als der junge Frédéric Chopin im Alter von nicht einmal 20 Jahren seine Etüden op. 10 der Öffentlichkeit präsentierte, brandeten kritische bis bösartige Kommentare auf:

„Alle Besitzer von verrenkten Fingern können sie wieder in die richtige Stellung bringen, indem sie diese Etüden üben; aber alle Menschen mit geraden Fingern sollten sich hüten, sie zu spielen. Wenigstens nicht, wenn kein Chirurg zur Hand ist.“ (Ludwig Rellstab)

Erst die Tatsache, dass Franz Liszt sich sogleich nach ihrem Erscheinen der Etüden op. 10 annahm und ihnen durch die öffentliche Aufführung seinen Segen erteilte, zeigt, dass er Sprengkraft und pianistische Dimension dieser Kompositionen früh erkannt hatte.

Es bedurfte wohl erst eines derartigen Giganten, um über den musikologischen Tellerrand der Zeit hinaussehend die epochale Bedeutung dieses Werkes zu begreifen. Und was ein Franz Liszt der Welt präsentierte, gelangte automatisch in die Charts der Musikszene.

Chopins Etüden sind noch heute der Maßstab für pianistisches Können.

Und – immer wieder werden sie in ihrer Schwierigkeit unterschätzt. Nicht selten auch von solchen Pianisten, die das technische Rüstzeug dafür besitzen.

Kampf um interpretatorische und weltanschauliche Wahrheiten

Cover: Staccato Verlag
Cover: Staccato Verlag

Durch das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des Klaviers, zog sich ein zum Teil offen ausgetragener Kampf um interpretatorische und weltanschauliche Wahrheiten wie auch technische Höchstleistungen (der berühmte Wettstreit Liszt-Thalberg), der zuweilen den olympischen Wettkämpfen nicht unähnlich war.

Und doch gab es auch das andere Lager, das  sich im Leipziger „Coffeebaum“ versammelte, um auf der Suche nach höheren Wahrheiten gegen den Tastenzirkus der Lisztianer, aber auch die Philister (Spießbürger) der „vormärzlichen“ Gesellschaft aufzubegehren.

Das Buch des Kenners, Könners und Künstlers Cord Garben schließt eine große Lücke in der verfügbaren Musikliteratur. In acht Kapiteln auf 245 Seiten (Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin, Liszt, Schumann und Brahms) findet der Leser sehr fundierte Betrachtungen bekannter Kompositionen und deren Interpretation von weltberühmten Pianisten. Sehr Interessantes hat der Autor z.B. über die Beethoven-Sonate cis-moll op. 27 Nr.2 zu erzählen, die täglich auf der ganzen Welt schätzungsweise 100.000-mal erklingt.

[–Mondschein- oder Wacholder-Sonate?–]

Die Urheberrechte am Beititel „Mondschein-Sonate“ hielt lange Jahre der Berliner Musikkritiker und –schriftsteller Ludwig Rellstab, der auf einer Bootsfahrt auf dem Vierwaldstädter See die folgenschwere Eingebung hatte. Ein Spaziergang in der Mittagshitze der Lüneburger Heide hätte womöglich eine „Wacholder-Sonate“ zum Ergebnis gehabt.

In unseren Tagen werden sie ihm ausgerechnet von einem Kritikerkollegen streitig gemacht. Eine ganz neue, hochliterarische Deutung liefert der große Musikbelletristiker Joachim Kaiser. Es sei erwähnt, dass es dem Autor nicht gelungen ist, den am 18. Dezember 2008 in der Süddeutschen Zeitung gegebenen Ratschlag, „Wer über Joachim Kaiser etwas sagen will, der muss lernen, sich zu beherrschen“ zu beherzigen. Denn wir erleben einen geradezu „klassischen“ Fall von „Musikverdeutung“,  zu dem sich der Münchener Klavierpapst aufschwingt, um auf einer hauchdünnen Informationsdecke einen ganz reizenden Absatz über den Titel der Sonate zu verfassen.

Originalton Kaiser: „Die Mondschein-Assoziation kann entweder idyllische Sentimentalität meinen, wie bleiche Verzweiflung, Wandern, [Joggen?] Wahnsinn, Tod.“  Wie’s weitergeht beim Schlagabtausch auf das Buch des sich selbst so betitelnden „Klavier Kaiser“, das lese man amüsiert in Garbens Buch.

Beethoven für Kenner und Liebhaber 100.000-mal

Imaginäre Statistiker vermuten, dass der erste Satz der Mondscheinsonate weltweit täglich ca. 100.000-mal erklingt: 150-mal im Konzert, 46.000-mal von  oder MP3 (bei Mac/ iTunes), 900-mal von Musikstudenten zu Hause oder in Übe-Zellen, die restlichen x dürften am heimischen „Upright“, dem aufrecht stehenden Klavier, von ebenso aufrechten Liebhabern dargeboten werden.

Sämtliche Anstrengungen, das Monument des ersten Satz zu stürzen, sind mehr oder weniger ohne Folgen geblieben. Die Bemühungen dauern nun schon Jahrhunderte (die Tonkonserven nicht gerechnet) und haben dennoch nicht vermocht, diesem einzigartigen Geniestreich seine Wirkung zu nehmen.

Unter den großen Pianisten hat sich lediglich Svjatoslav Richter, wie er in seinen Tagebucheintragungen penibel festgehalten hat, mit dieser Sonate nicht auf das Podium getraut.

Cord Garben

Cord Garben, Pianist, Liedbegleiter und Dirigent, hat u.a. fast zwei Jahrzehnte lang als Produzent für die Deutsche Grammophon gearbeitet und dort große Künstler betreut, u.a. Herbert von Karajan, Mstislav Rostropovich, Dietrich Fischer-Dieskau, Arturo Benedetti Michelangeli. Ausgezeichnet mit sieben  Grammy-Awards, darunter vier für die Produktion von Richard Wagners „Ring“ an der Metropolitan Opera in New York mit James Levine. Berühmte Sänger hat Cord Garben bei Liedertourneen auf fast allen Kontinenten begleitet: u.a. Edith Mathis, Brigitte Fassbaender, Anne-Sophie von Otter, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Bernd Weikl, Kurt Moll). Gesamtaufnahmen der Liedwerke von Alexander Zemlinsky, Hector Berlioz sowie Carl Loewe (21 CDs). Deutscher Schallplattenpreis und wichtige internationale Auszeichnungen (1989 Preis des französischen Kulturministers für die beste kulturelle Initiative).

Cord Garben ist ein faszinierendes Buch über die Werktreue großer Künstler gelungen. Sehr lesenswert und empfehlenswert.

Cover: Staccato Verlag
Cover: Staccato Verlag

Cord Garben

Auf die Finger geschaut – Von der Werktreue großer Pianisten

STACCATO-Verlag
248 Seiten  22€



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