Runges farbige Lichtromantik

„Zum rasend werden, toll und schön zugleich“, empfand ein zeitgenössischer Fan die Werke des deutschen Malers Philipp Otto Runge.
Titelbild
Bildausschnitt von Runge: "Der Morgen"Foto: Hamburger Kusnthalle/BPK/Elke Walford
Von 18. August 2011

Es war kein Geringerer als Goethe, der so begeistert urteilte:  Er hatte sich Runges Grafikzyklus „Die Zeiten“ gekauft und damit sein Musikzimmer geschmückt. Die Bilder, welche die Tageszeiten symbolisierten, waren 1805 der künstlerische Durchbruch des jungen Malers.

Und das war „nur“ eine Linienzeichnung. Was hätte Goethe erst zum Gemälde „Der Morgen“ gesagt?

„Der Morgen“ (1808)  ist eine Symphonie aus Farbe und Licht, technisch virtuos umgesetzt und in seiner scheinbar oberflächlichen Süße ein einzigartiges Werk.

Die Genialität des jungen Malers konzentriert sich darin ebenso mystisch wie frühlingsfrisch.  Leider starb Runge 1810 mit nur 33 Jahren an Lungentuberkulose und es wurde nicht mehr „Mittag“ und „Abend“ für ihn.

Das Geheimnis des Lebens

Runge war Vater von vier Kindern und setzte seine Sprösslinge – und manchmal auch die der Nachbarn – mehrfach ins Bild. Er war vom Wesen der Kinder, ihrer Arglosigkeit und unschuldigen Ausstrahlung so beeindruckt, dass er sie zu den Hauptpersonen seines „Morgens“ machte.

Der Tagesanbruch ist darin zugleich Symbol für das sich ständig erneuernde Leben und den göttlichen Funken, der allem innewohnt.

Die kunsthistorische Meinung ist, Runge habe hier eine Art Privat-Mystik verwirklicht, die schwer zu decodieren war und deshalb auch in seiner Zeit einzigartig blieb. Seine Idee von einer „Landschafterey“, die das „tiefste der Religion“ auszudrücken vermochte, war als künstlerischer Weg nicht nachahmbar. Er und seine Inspiration blieben, neben den Landschaften des abstrakt-spirituellen Caspar David Friedrich, ein Ausnahmefall.

Doch strahlt dieses Bild in seiner realen Anwesenheit eine Heiterkeit und Tiefe aus, die über alle Erklärungsversuche erhaben ist. Selbst Betrachter des 21. Jahrhunderts, deren Sehnerven bei so viel klaren Farben für gewöhnlich Kitsch-Alarm schlagen, beginnen von Runges Mikrokosmos fasziniert zu sein.

Philipp Otto Runges „Der Morgen“ (1808) hängt als Mittelpunkt der zentralen Rotunde der Hamburger Kunsthalle wie im „Allerheiligsten“.Philipp Otto Runges „Der Morgen“ (1808) hängt als Mittelpunkt der zentralen Rotunde der Hamburger Kunsthalle wie im „Allerheiligsten“.Foto: Hamburger Kunsthalle/BPK/Elke Walford / Bild anklicken zum Vergrößern

Er kopiert nicht, er zitiert

Die Komposition strahlt strikt symmetrisch eine Ordnung aus, die den Betrachter zuerst glauben macht, er habe es mit sakraler Kunst zu tun. Dass da ein Baby genau vorne in der Mitte liegt, erinnert schon sehr ans Christuskind. Es stellt jedoch den neugeborenen Tag dar, der von den umstehenden – viel mehr ihn umfliegenden – anderen Kindern, begrüßt wird.

Mehrfach zitiert Runge in diesem Bild die europäische Kunst- und Kulturgeschichte. Dass es ihm gelang, bekannte Symbole und Bildfindungen auf ungewöhnliche Weise neu zu nutzen, macht die esoterische Aura des Gemäldes aus.

Die Frau in der Mitte ist Aurora, die Göttin der Morgenröte, aber eigentlich eine Verkörperung des weiblichen Schöpfungsprinzips. Runge bezeichnete sie selbst an mehreren Stellen als „Venus-Maria“. Und ähnlich wie Botticellis Venus hat sie welliges, blondes Haar, das im Wind weht.

Runge verschleiert ihre Körperformen elegant mit Unschärfe, damit sie nicht zu viele Blicke auf sich zieht. Denn viel entscheidender ist, was sie in der Hand hält:

Sie steht auf einer entfernten Wolkenbank und hält eine riesige Lilienblüte in die Höhe.

Jedes Blütenblatt scheint beseelt zu sein, denn auf jedem sitzt ein Kindchen. Alles in allem sind es ihrer sechse, genauso viele wie Blütenblätter. Sie halten sich fröhlich an den Händen. Auch die übrigen Engelchen schweben aus zart angedeuteten Lilienknospen.

Die göttliche Natur

Der eigentliche Inhalt des Bildes ist eine Darstellung des Lebens auf verschiedenen Daseinsebenen. Eine ständige Interaktion in kosmischer Harmonie, die sich als schöpferische Kraft entfaltet. Der allseits beseelte Kosmos und die Allgegenwart des Göttlichen in der Natur war eine der Hauptideen der Romantik, die auch in Goethes Werken ihre Widerspiegelung fand.

Das Spannendste ist jedoch, dass es Runge gelingt, für sichtbare wie unsichbare  Lebensstadien Bilder zu finden, sodass der Betrachter diesen schöpferischen Prozess der Entfaltung in mehreren Dimensionen sehen kann. Witzig ist, dass er dabei keine Unterschiede zwischen Engelskindern und Blumen macht und sogar seine eigenen Kinder als Engelchen portraitierte.

Zwei Ebenen und zwei Blumen

Der Mittelteil des Bildes ist eine Leinwand, der hölzerne Rahmen darum herum ist jedoch genauso bemalt und unverzichtbarer Bestandteil des Bildes. Darauf versucht er uns zu zeigen, was seiner Ansicht nach unter der Erde geschieht. Ein neues Leben, symbolisiert in den kleinen Engeln, beginnt in den Wurzeln einer Pflanze und bahnt sich seinen Weg hinauf durch Stiel und Blüte.

Auch die Sonne, auf der Leinwand realistisch hinter dem Horizont angenommen, begegnet uns im Rahmen, unter der Erde wieder – unsichtbar, hinter einer dunklen Scheibe verborgen. Die kleinen Engel scheinen von dort zu kommen. Hilfsbereit halten sie sich an den Händen, wie um ihre Geschwister mit nach oben zu ziehen. Die Idee verblüfft, weil der Künstler hier die Sonne,  eben noch  Quelle allen irdischen Lebens, mit einer göttlichen Lebensquelle hinter den Dingen gleichsetzt. Und weil der Mensch diesen Daseinsursprung nicht erkennen kann, muss er natürlich verdeckt sein …

Die Lilie als Symbol der Reinheit und Ursprünglichkeit erscheint in der Mitte des Bildes genauso wie im Rahmen. Allerdings gibt es hier noch eine andere Blume: Die rote Amaryllis symbolisiert eine irdische Ebene des Wachstums und darüber gibt es noch eine weiße Lilie. Die Engel schlüpfen zuerst durch die rote, dann durch die weiße Blume hindurch. Ganz oben angelangt, halten sie in dem Moment wo sie herauskommen, die Ärmchen in einer beschützenden und demutsvollen Geste um sich.

Der Kosmos lächelt

Über ihnen befindet sich ganz oben im Rahmen noch etwas Bemerkenswertes: Ein Firmament, das von unzähligen kleinen Engelsgesichtern geformt wird – eine Bildfindung, die in der Renaissance verwendet wurde, bei Raffael sogar mehrmals im Großformat.

Sie ist hier klein und fein eingearbeitet, als endgültige Überhöhung des Geschehens. Weiße Lichtstrahlen, wieder aus unsichtbarer Quelle, bilden ein Echo zur verdeckten Sonnenscheibe unten. In der Hauptfläche des Bildes tanzen Engelsköpfchen an passender Stelle einen Reigen um den Morgenstern.

Runge zeigt uns einen streng komponierten, doch vollkommenen Mikrokosmos, der sich auszudehnen und in sich zu schweben scheint. Dies liegt an den außergewöhnlich reinen Farben, die er nach altmeisterlicher Manier in sehr feinen, transparenten Schichten aufgetragen hat. Besonders sein Übergang zwischen Gelb und Blau am Himmel ist einer der spektakulärsten, die je gemalt wurden. Ein äußert zarter und durchsichtiger Raum, in dem alles aus strahlendem Licht  besteht.

Vier Ansichten sollten Runges Farbenkugel erklären.Vier Ansichten sollten Runges Farbenkugel erklären.Foto: Hamburger Kunsthalle-Kupferstichkabinett/BPK/Christoph Irrgang / Bild anklicken zum Vergrößern

Runges Farbenkugel

Runges Farbentheorie basierte auf dem Gedanken, dass die Farben Spielarten des Lichtes sind und sich aus verschiedenartiger Mischung von Licht und Dunkelheit ergeben.

Das Ergebnis seiner Überlegungen präsentierte er als eine Art Globus.

Diese Farbenkugel war das erste dreidimensionale Farbsystem, ein abstrakt gedachtes Modell der subtraktiven Farbmischung, welches die Computer-Farbdiagramme unserer Tage vorweg zu nehmen scheint. Der Maler versuchte damit, die Beziehung aller möglichen Farben verständlich zu machen, sogar unter der Bedingung, dass damals einige Farben in ihrer Reinform nur gedacht werden konnten: Sie existierten weder als Naturpigmente noch waren sie technisch herstellbar.

Goethe hatte sich zur gleichen Zeit intensiv mit der wissenschaftlichen Erforschung der Farben und ihrer Wahrnehmung beschäftigt. Er befand sich in regem Briefwechsel mit Runge, dessen Farbenkugel folgenden Aufbau hatte:

Den Nordpol der Farbenkugel stellte Runge sich weiß vor, den Südpol schwarz und den Mittelpunkt grau. Die reinen Farben setzte er am Äquator in Segmenten an. In den Breiten- und Längengraden entstehen nun Segmente, deren Farben nach oben immer weißer und nach unten immer schwärzer werden. Zur Mitte hin wird die Farbmaterie immer grauer, weil in der gedachten Mittelachse des Farbglobus reines Schwarz und reines Weiß aufeinander zulaufen.

Runge stellte mit einem berühmt gewordenen, kolorierten Kupferstich (heute im Besitz der Kunsthalle Hamburg) die vier wichtigsten Ansichten der Farbenkugel dar: Den weißen und den schwarzen Pol, den Querschnitt durch den Äquator mit den außenliegenden Ursprungsfarben sowie den Querschnitt durch die graue Mittelachse.


Philipp Otto Runge

(1777 – 1810)

war neben Caspar David Friedrich der wichtigste Vertreter der deutschen Frühromantik. Bestrebt, eine tiefgründige, neue Kunst zu schaffen, begriff er Kunst als umfassenden Bestandteil des Lebens und unterschied nicht zwischen Kunst und Kunsthandwerk.

Noch populärer als sein malerisches Wirken wurde jedoch ein Volksmärchen, dass er „nebenbei“ in Niederdeutsch aufschrieb, um es den Gebrüdern Grimm für ihre Sammlung zur Verfügung zu stellen: Die Geschichte „Von dem Fischer un syner Fru “.

Bildausschnitt von  Runge: "Der Morgen"Bildausschnitt von Runge: "Der Morgen"Foto: Hamburger Kusnthalle/BPK/Elke Walford


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