Referendum: Türkei wendet sich vom Erbe Atatürks ab

Insbesondere der Islam gewann unter dem islamisch-konservativen Politiker Erdogan an Bedeutung in Politik und Öffentlichkeit zurück. Nach dem von Regierungsseite beanspruchten Sieg bei dem Referendum zur Ausweitung der Macht des Präsidenten am fürchten viele säkulare Türken, dass sie nun noch mehr unter Druck geraten.
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Wahlveranstaltung in Antalya. Das Verfassungsreferendum findet in der Türkei am 16. April statt.Foto: Kayhan Ozer/dpa
Epoch Times16. April 2017

Seit der Regierungsübernahme durch die AK-Partei von Recep Tayyip Erdogan hat sich die Türkei immer mehr vom Erbe des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk entfernt. Insbesondere der Islam gewann unter dem islamisch-konservativen Politiker Erdogan an Bedeutung in Politik und Öffentlichkeit zurück. Nach dem von Regierungsseite beanspruchten Sieg bei dem Referendum zur Ausweitung der Macht des Präsidenten am fürchten viele säkulare Türken, dass sie nun noch mehr unter Druck geraten.

Schon seit Jahren klagen westlich orientierte Türken, dass unter Erdogan der Islam in die Politik zurückkehre. Während Atatürk keinen Hehl aus seiner Verachtung für den Islam gemacht hatte, den er als Hindernis für Modernisierung und Fortschritt hielt, tritt Erdogan demonstrativ fromm auf. Auf einem Hügel über dem Bosporus ließ er eine riesige Moschee errichten und zeigt sich regelmäßig beim Gebet.

Anders als der Junggeselle Atatürk, der Oper und Bälle liebte und dessen kurze Ehe kinderlos blieb, pflegt Erdogan einen konservativen Lebensstil und tritt für ein traditionelles Geschlechterverhältnis ein. Mit seinem Aufruf an die Türkinnen, wie seine Ehefrau Emine vier Kinder zu haben, sorgte Erdogan für Aufruhr.

Viele säkular und westlich orientierte Türken werfen Erdogan vor, ihnen seine Lebensweise aufzwingen zu wollen. Sie kritisieren, dass unter Erdogan die Steuern auf Alkohol erhöht und Werbung für Spirituosen eingeschränkt wurden. Neue Regeln wie ein Ausschankverbot rund um Moscheen machten zudem Bars das Leben so schwer, so dass selbst im Istanbuler Ausgehviertel Beyoglu das Nachtleben deutlich zurückging.

Für heftige Debatten sorgte die Zulassung des Kopftuchs in staatlichen Einrichtungen. Bei den Kemalisten, die den Schleier als Symbol des Islam verbannt hatten, stieß der Einzug kopftuchtragender Frauen in Universitäten, Gerichte und das Parlament auf wütenden Protest. Allerdings war das Kopftuchverbot nur schwer zu rechtfertigen in einem Land, in dem die große Mehrheit der Frauen ein Kopftuch trägt.

Der Streit um den Islam ist in der Türkei schon immer ein Kulturkampf zwischen sozialen Schichten gewesen. Die radikale Säkularisierungs- und Modernisierungspolitik Atatürks begann als Projekt der urbanen, westlich orientierten Mittel- und Oberschicht – und blieb es auch. Nur eine Minderheit übernahm die kemalistische Staatskultur, während die Mehrheit dem Islam und seinen Traditionen verhaftet blieb.

Die Rückkehr des Islam in die Öffentlichkeit unter der AKP stieß daher in großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung. Viele Türken fühlen sich in ihrer Kultur und Lebensweise von Erdogan und anderen AKP-Politikern erstmals richtig anerkannt. Manche Konservative empfinden es nur als gerecht, dass nach der jahrzehntelangen Dominanz der Kemalisten nun sie die Ordnung der Gesellschaft bestimmen können.

Zwar hat die AKP in den vergangenen Jahren das Erbe Atatürks zunehmend in Frage gestellt, doch bleibt sie selbst von ihm geprägt. So sehr sich die islamisch-konservative Partei auch von den Kemalisten unterscheidet, so tragen ihr Personenkult um Erdogan, der Einsatz des Staates zur Durchsetzung einer bestimmten Kultur und ihre Intoleranz gegenüber Kritik unverkennbar Züge des Kemalismus. (afp)



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