„Der Beitrittsprozess ist tot“: Ankaras Beziehungen zu Europa am Wendepunkt
Die Türkei ist derzeit sichtlich um eine Entspannungen ihres Verhältnisses zu Europa bemüht, aber eine Aussicht auf Fortschritte im EU-Beitrittsprozess besteht kaum.
Vielmehr haben Frankreich und Deutschland gerade klar gemacht, dass die Gespräche trotz der jüngsten Charmeoffensive der Türkei weiter auf Eis liegen werden. Zwar will keine Seite die Verhandlungen offiziell abbrechen, doch suchen beide verstärkt nach alternativen Wegen.
„Es gibt auf beiden Seiten die Einsicht, dass der Beitrittsprozess tot ist und nirgendwohin führen wird“, sagt Asli Aydintasbas vom European Council on Foreign Relations. Daher werde über „ein neues Format“ diskutiert; künftig würden sich die Beziehungen wohl stärker um Handelsfragen drehen. Auch Ankara mache sich keine Illusionen, den Beitrittsprozess noch einmal wiederbeleben zu können, sagt Aydintasbas.
Da die EU mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei bleibt, ist Ankara interessiert, die Kooperation auf eine neue Grundlage zu stellen und den Streit der vergangenen Jahre hinter sich zu lassen. Anfang Januar reiste Präsident Recep Tayyip Erdogan daher nach Paris, einen Tag später besuchte Außenminister Mevlüt Cavusoglu seinen deutschen Kollegen Sigmar Gabriel (SPD) in Goslar.
Bei Erdogans Paris-Besuch sprach sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dafür aus, die „Scheinheiligkeit“ im Beitrittsprozess zu beenden. „Es ist klar, dass die jüngsten Entwicklungen und Entscheidungen keinerlei Fortschritt beim begonnenen Prozess zulassen“, sagte Macron und schlug stattdessen „eine Partnerschaft“ vor, um die „Verankerung“ der Türkei in Europa zu bewahren.
Auch auf der anderen Rhein-Seite gilt ein EU-Beitritt nicht länger als Ziel: Im Wahlkampf sprachen sich der SPD-Vorsitzende Martin Schulz und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für ein Ende der Verhandlungen aus. In ihrem Sondierungspapier schlossen SPD und Union angesichts der Lage von „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten“ in der Türkei Fortschritte im Beitrittsprozess aus.
Der türkische Europaminister Ömer Celik zeigte sich enttäuscht über die Haltung der Deutschen und betonte, die Türkei strebe weiter eine Vollmitgliedschaft an. Eine „privilegierte Partnerschaft“, wie sie Merkel schon vor Jahren ins Spiel gebracht hatte, komme nicht in Frage, sagte Celik. Viele Experten glauben dennoch, dass Ankara sich längst mit dem Ende der Beitrittsgespräche abgefunden hat.
Für den früheren EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini, hat die Türkei ihre EU-Ambitionen nach dem Putschversuch von Juli 2016 endgültig aufgegeben. Schon in den Jahren zuvor war der anfängliche Enthusiasmus über die Aufnahme der Beitrittsgespräche 2005 Ernüchterung gewichen, da der Prozess nur schleppend vorankam, weil mehrere EU-Staaten einen Beitritt der Türkei skeptisch sahen.
Bis heute wurden von den 35 Verhandlungskapiteln nur 16 eröffnet und lediglich eines geschlossen. Vollends in die Sackgasse gerieten die Gespräche nach dem versuchten Militärputsch im Juli 2016, als Erdogan den Ausnahmezustand ausrief und zehntausende Menschen ins Gefängnis warf. Die Einführung des Präsidialsystems im April 2017 entfremdete die Türkei nur noch weiter von Europa.
Nach Ansicht von Pierini geht es der Türkei heute weniger um den Beitritt, als um Fortschritte in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen. „Was wir erleben, ist der Wechsel von einer Beziehung zwischen politischen Verbündeten zu einer Beziehung zwischen Partnern, die in Feldern wie Terrorabwehr, Handel und Flüchtlinge kooperieren“, sagt Pierini, der derzeit beim Politikinstitut Carnegie Europe forscht.
Ankara ist besonders am Ausbau der Zollunion sowie Visafreiheit interessiert. Allerdings werden auch hier Fortschritte wohl von einer Verbesserung der politischen Lage in der Türkei abhängen. „Solange die Türkei die notwendigen Verpflichtungen nicht erfüllt, kann es keine Visa-Liberalisierung oder eine Erweiterung der Zollunion geben“, heißt es dazu im Sondierungspapier von SPD und Union. (afp)
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