Die EU in der Abspaltungsfalle
Polizeirazzien und Festnahmen in Gebäuden der Regionalregierung, tausende empörte Unabhängigkeitsbefürworter auf den Straßen: In der spanischen Region Katalonien eskaliert ein Konflikt, der auch die EU vor eine schwierige Situation stellt. Sie würde sich am liebsten aus dem hochbrisanten Abspaltungsstreit heraushalten. Doch der Druck, Position zu beziehen, wird mit dem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum am Sonntag von Tag zu Tag größer.
„Eine Anerkennung Kataloniens würde einen schrecklichen Präzedenzfall für die EU schaffen“, sagt Dan Dungaciu, Leiter des rumänischen Instituts für politische Studien und internationale Beziehungen (ISPRI). „Alle separatistischen Bewegungen könnten das in der Folge nutzen.“ Angesichts von Minderheiten in vielen EU-Ländern fürchten mehrere Hauptstädte einen Domino-Effekt. „Das ist eine Bombe, die tickt“, sagt Dungaciu. Brüssel schweige deshalb lieber ganz zu dem Thema.
In der EU wollen sich die meisten zu der sensiblen Frage nur anonym äußern. Die Europäische Union verfolge „den gesamten Prozess mit großer, großer Sorge“, sagt eine hochrangige EU-Vertreterin. Letztlich gehe es um eine „interne Angelegenheit“ Spaniens. Die Linie der EU hier sei: „Wir vertrauen auf die Demokratie.“
Doch in den Mitgliedstaaten wächst die Sorge, dass der Konflikt aus dem Ruder läuft. „Selbst wenn sie im rechtlichen Rahmen handelt, geht die spanische Regierung mit der Lage sehr schlecht um“, sagt ein Diplomat. „Die Guardia Civil loszuschicken, um Leute festzunehmen, ist ein sehr schlechtes Signal.“
Amadeu Altafaj, Vertreter Kataloniens bei der EU, ist über das Schweigen in Brüssel nach den Razzien vom Mittwoch vergangener Woche empört. „Hier geht es nicht nur um Ja oder Nein zur Unabhängigkeit, um die Beziehung zwischen Katalonien und Spanien“, sagt er. „Es geht hier um demokratische Standards in der EU.“ In Katalonien lebten immerhin 7,5 Millionen EU-Bürger, deren Rechte geschützt werden müssten. Das Mindeste sei, dass die EU beide Seiten zu einem „politischen Dialog“ aufrufe.
Doch selbst dies will die EU-Kommission nicht. „Wir respektieren die innere verfassungsmäßige Ordnung Spaniens“, lautet seit Wochen ihre Standardantwort. Mit ihr pariert Brüssel auch lauter werdende Rufe nach einer Vermittlerrolle in dem Konflikt.
Die Kommission leitet diese Haltung aus der sogenannten Prodi-Doktrin von 2004 ab. Der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi hatte erklärt, ein Gebiet, das sich von einem Mitgliedsland abspalte und unabhängig werde, sei aus Sicht der Union fortan „ein Drittstaat“. Die europäischen Verträge würden „vom Tag seiner Unabhängigkeit an auf seinem Gebiet keine Anwendung mehr finden“. Diese Doktrin war 2012 fast wortgleich durch Prodis Nachfolger José Manuel Barroso wiederholt worden.
Der heutige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nahm sich vor zwei Wochen in einem Interview etwas mehr Freiheiten: „Wir haben immer gesagt, dass wir in der Frage den Entscheidungen des spanischen Verfassungsgerichts und des spanischen Parlaments folgen werden“, sagte er. Falls es aber „ein ‚Ja‘ zur Unabhängigkeit Kataloniens geben wird (…), werden wir diese Entscheidung respektieren“.
Kataloniens Vize-Regierungschef Oriol Junqueras wertete diese letzte Äußerung umgehend als Bestätigung für den Kurs der Unabhängigkeitsbefürworter. Die Kommission ist seitdem damit beschäftigt zurückzurudern.
Aber auch Juncker hatte in dem Interview darauf verwiesen, dass ein möglicherweise unabhängiges Katalonien keinesfalls automatisch Mitglied der EU werden könne. „Katalonien wäre dem gleichen Beitrittsprozess unterworfen wie alle Mitgliedstaaten.“ Beitrittsverhandlungen ziehen sich normalerweise über Jahre – und zu ihrer Eröffnung wäre ein einstimmiger Beschluss nötig. Madrid könnte sie damit im Alleingang blockieren.
Einige in der EU hoffen, dass die Lage nach dem Referendum noch zu beruhigen ist. „Dazu muss Madrid den Katalonen aber ein Verhandlungsangebot machen“, sagt ein Diplomat. (afp)
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