Martin Miller: Das wahre Drama des begabten Kindes
Psychotherapeut Martin Miller entmystifiziert seine Mutter Alice Miller mit seinem autobiographischen Buch: „Das wahre Drama des begabten Kindes“, Untertitel: „Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“.
Er legt ein aufrüttelndes Buch über den öffentlichen Erfolg und das private Scheitern seiner Mutter vor. Die Kinderpsychologin Alice Miller (1923 – 2010) setzte sich zeitlebens für geschlagene Kinder ein, schützte ihren Sohn aber nicht vor dem gewalttätigen Vater. Dennoch will Martin Miller, 1950 in Zürich geboren und dort als Psychotherapeut tätig, mit seiner Mutter nicht abrechnen.
Sprachlich differenziert und distanziert, ohne Triumph über die Tote, die sich am 14. April 2010 in Saint-Rémy-de-Provence das Leben nahm, nähert sich Miller den Ursachen der Verstrickung von Mutter und Sohn, die zeitweise ungeheuerliche, nahezu psychotische Dimensionen erreichte.
Im Jahr 1979 erschien im Frankfurter Suhrkamp-Verlag das sensationelle Buch „Das Drama des begabten Kindes“ der polnisch-jüdischen Psychologin Alice Miller – seither in Dutzenden von Auflagen in mehr als 30 Sprachen erschienen – ein Weltbestseller.
Das Buch wurde für einige Jahre geradezu zum Standard einer „neuen Weltanschauung“. In Wahrheit lebte Alice Miller als gespaltene Persönlichkeit, die das Leben ihres Sohnes zur Projektionsfläche von unbewusstem Hass machte. „Ich musste meine ganze Biografie auslöschen“, hat Alice Miller ihrem erwachsenen Sohn Martin einmal gesagt. Wie in einer Nussschale steckt die ganze „Tragödie Alice Millers“ in diesem Satz.
Nach außen trat die Psychologin und Autorin Alice Miller für eine einfühlsame und gewaltfreie Erziehung ein, wurde damit zu einem Star der Pädagogik. Der eigene Sohn lernte jedoch eine ganz andere Frau kennen. Das Buch, das er, 63-jährig, nun darüber geschrieben hat, ist keine Anklage, sondern ein Versuch, tief sitzende Traumata zu verstehen.
Alicija Englard wurde am 12. Januar 1923 in Piortków Trybunalski bei Lodz geboren. Alice Miller charakterisierte ihren Vater als einen „erfolglosen Bankier“ und ihre Mutter als eine Hausfrau, die „einst ein rechtloses, von ihren Eltern und Brüdern unterdrücktes Mädchen gewesen war, das mit Worten über Liebe, Moral und Pflicht großgezogen wurde“.
Ihre chassidische, orthodoxe Familie empfand das Mädchen, eine Leseratte, als einengend. Das Kind haderte mit einer hartherzigen Mutter, Terror und Verfolgung drängten die Halbwüchsige jedoch in eine ungewollte Solidarität mit ihrer jüdischen Familie.
Alice Miller geb. Englard konnte 1940 noch mit 17 Jahren das Abitur ablegen. Dann wurde sie mit ihrer gesamten Familie ins Warschauer Ghetto eingewiesen. Es gelang ihrer Familie, Alice aus dem Ghetto herauszuschmuggeln und sie unter falschem Namen bei einer christlichen Familie unterzubringen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging sie an die Universität Basel, unterbrach ihr Studium mehrfach, u.a. wegen der Heirat mit dem katholischen polnischen Soziologen Andreas Miller (1923 – 1999), der während seiner 24-jährigen Professur an der Hochschule St. Gallen zeitweise auch Direktor der Schweizerischen Zentralstelle für Hochschulwesen und Generalsekretär der Schweizerischen Hochschulrektorenkonferenz war.
Das junge Ehepaar Miller lebt in Zürich in sehr beengten Wohnverhältnissen. Im April 1950 kommt der Sohn Martin zur Welt. Er lässt sich von der Mutter nicht stillen. Das Neugeborene habe ihre Brust „verweigert“, klagt Alice Miller später, sie habe sich abgelehnt gefühlt, vom eigenen Kind sei sie gekränkt worden.
Kurz nach der Geburt geben die Eltern, angehende Akademiker, die intensiv mit ihren Doktorarbeiten beschäftigt sind, den Sohn fort zu einer Bekannten, die sich auf Kinderpflege kaum versteht. Schließlich erbarmt sich eine Tante und nimmt ihn ein halbes Jahr zu sich. Als Martin sechs ist, wird Tochter Julika geboren, ein Kind mit Down-Syndrom. Die entsetzte Mutter beschuldigt den Vater, genetische Risiken in der Familie verschwiegen zu haben. Der Sohn, der lästige „Bettnässer“, kommt jetzt in ein Heim. Dort, auf der Halbinsel Au am Zürichsee, kaum 30 Kilometer von zu Hause entfernt, besuchen die Eltern ihn kein einziges Mal.
Wieder zurück im Elternhaus, erlebt der Achtjährige sich als fremd, als „Ausländer“, denn die Eltern sprechen polnisch untereinander, das er nicht versteht. Vom Vater wird der Junge geschlagen und zu Waschritualen gezwungen, die er als sexualisierte Übergriffe empfindet. Bei Tisch verspottet der Vater den Sohn. In jeder Kinderfrau, zu der der Junge Vertrauen fasst, wittert die eifersüchtige Mutter eine Rivalin und entlässt sie. Im Alter von 17 Jahren setzt der Heranwachsende durch, dass er aufs Internat kommt. Reglementiert und katholisch ging es da zu, doch für ihn ist es Erholung vom elterlichen Irrenhaus.
Alice Miller hatte eine Mission. Es ging ihr darum, die Öffentlichkeit für das Recht der Kinder auf Empathie und gewaltfreie Erziehung zu sensibilisieren, für die seelischen und gesellschaftlichen Schäden durch „Schwarze Pädagogik“ und falsche Tabus in Familien. In einer frühen Sozialisation mit Empathie und ohne Gewalt, so die Kernthese, liegt der Schlüssel für eine friedfertige Gesellschaft.
So fand sie hunderttausende Leser, die sich in der Kindheit falsch behandelt wussten; der Titel, „Das Drama des begabten Kindes“, ist stehende Rede geworden. Um zu überleben, erklärte sie, erspürt das sensible, das „begabte“ Kind die emotionalen Bedürfnisse der neurotischen Eltern und verleugnet seine eigenen. Abgespalten wirken Trauer und Wut im Unbewussten des Kindes fort; später wird es mit seinem Nachwuchs ähnlich verfahren.
Martin Miller schreibt über eine andere Alice Miller. Der Sohn sucht keine Revanche. Sein Bericht ist nüchtern, ohne Larmoyanz. Er sucht nach der Biografie der Mutter, schildert die eigene Kindheit und Jugend, erörtert mit der Hilfe eines Traumaexperten Fragen zur transgenerationellen Traumatisierung.
Vom Vorleben seiner Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg als polnische Stipendiaten in die Schweiz kamen, ahnte der junge Martin Miller wenig. Auch durch den Vater, den 1999 plötzlich verstorbenen Soziologen, in dessen katholischem Glauben er aufwuchs, erfuhr er nicht viel. Mit aller Macht einer starken, unerlösten Psyche projizierte Alice Miller ihren unbewusst weiterwütenden Hass auf die eigenen Eltern und ihre Abwehr der Vergangenheit als jüdische Verfolgte auf den Sohn.
Über seinen Vater schreibt der Sohn Martin: „Ich erinnere mich an meinen Vater als mir gegenüber verachtenden, cholerischen und autoritären Mann. Er hat mich, könnte man sagen, mit Zuckerbrot und Peitsche erzogen – wie viele Kinder dieser Zeit. Ich wurde oft verprügelt und andererseits etwa mit meinem Lieblingsessen verwöhnt. Für mich als Kind waren seine Stimmungen unberechenbar …“
Am fatalsten zeigte sich die spannungsreiche Dynamik bereits, als der junge Martin, inzwischen selber Therapeut, mit Ende 20 in eine Krise geriet und ihn die Mutter zur Behandlung bei ihrem Guru nötigen wollte, dem Berner „Primärtherapeuten“ Konrad Stettbacher. Der schwor darauf, seine Opfer etwa durch tagelanges Verharren in Dunkelzellen in die Regression zwingen zu können, um „Katharsis“ zu befördern. Verzweifelt willigte Martin Miller 1992 in die Behandlung bei einer Stettbacher-Schülerin ein. Die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen wurden hinter dem Rücken des Patienten an den „Guru“ weitergeleitet, der all das mit Mutter Miller besprach. Ultimativer Verrat.
Konrad Stettbacher veranlasste Alice Miller sogar, die Approbation ihres „infantilen“ Sohnes zu hintertreiben. „Es war eine Zeit der Verfolgung“, schreibt Martin Miller, „ich bekam Drohbriefe, sie unterstellte mir Lügen, warf mir Versagen und Schlimmeres vor.“ In dieser Hölle war der Sohn nahe am Suizid. Seine berühmte Mutter sah ihn als „Monster“.
Martin Miller verklagte Konrad Stettbacher und erhielt Recht. Der Guru, der auch Patientinnen sexuell missbraucht haben soll, wurde als Scharlatan entlarvt, und Alice Miller wies den Suhrkamp-Verlag an, die Hymnen auf den Mann aus ihren Büchern zu tilgen.
Mit dem Schisma zwischen privatem Scheitern und öffentlichem Erfolg ist Alice Miller in der Avantgarde der pädagogischen Reformer jedenfalls nicht allein. Jean-Jacques Rousseau gab drei seiner Kinder im Waisenhaus ab, Maria Montessori schickte ihren unehelichen Sohn zu Pflegeeltern, Bruno Bettelheim, Autor der berühmten Studie „Kinder brauchen Märchen“, prügelte Schützlinge in seiner Reformschule und trug den Spitznamen „Benno Brutalheim“. Und die Zustände an der Odenwaldschule zu Zeiten des pädokriminellen Gerold Becker sowie am Elite-Internat des Benediktinerordens Kloster Ettal (man schrieb von der „Hölle von Ettal“) u.v.m. machten erst vor drei Jahren Schlagzeilen.
Der Berliner Traumatherapeut Oliver Schubbe (Jahrgang 1962) schreibt in seinem bemerkenswerten Nachwort u.a.: „Jedes zweite Kriegskind wie Alice Miller hat ein traumatisches Ereignis erlebt… Die Nachkriegsgeneration erlebte die psychischen Kriegsfolgen an ihren Eltern und die Auswirkungen des Krieges auf die Gesellschaft… Das Unausgesprochene ließ die Kinder mit ihren Fragen allein…
Der Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem eigenen Leben ist für die Nachgenerationen nur sehr schwer zu begreifen… Aufarbeitung ist kein gradliniger und schon gar kein schneller Prozess. Die Rückanpassung an Friedenszeiten verläuft wie in einer Spirale über mehrere Generationen. Doch wenn eine Alice Miller es nicht geschafft hat, das Schweigen und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, werden wir als Eltern, als Gesellschaft es dann jemals schaffen?“
Vor ihrem Tod durch Suizid erhielt der Sohn einen kurzen Anruf von Alice Miller am 14. April 2010 morgens: „Alles Gute für die Zukunft!“
Martin Miller
Das wahre Drama des begabten Kindes
Die Tragödie Alice Millers –
wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken
Kreuz Verlag Freiburg
175 Seiten
€ 17,99
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